Archiv Nachhaltigkeit & Neue Wirtschaft


August - Dezember 2023


Helga Köhne – die Aufstrich-Königin

Foto: Einklang Verlag
Foto: Einklang Verlag

Für Pflanzen hatte sie immer ein Herz. Schon als kleines Mädchen schützte Helga Köhne die ersten Schneeglöckchen in den Beeten mit einem Mooskränzchen, damit sie es nicht so kalt hatten. Später, als Erwachsene, war ihr klar, dass es im Grunde umgekehrt ist: Die Pflanzen können uns Menschen Schutz und Hilfe bei Krankheiten geben. Die Natur liefert uns auch alles, was wir zum Leben brauchen. 

Helga war in jungen Jahren in der ganzen Welt unterwegs. Sie arbeitete unter anderem bei der Lufthansa und ironischerweise sogar in der Agrarchemie. Hier bekam sie wichtige Einblicke, die ihre Einstellung zur Natur maßgeblich beeinflussten. Nach einem Unfall, der sie bleibend körperlich stark einschränkte und sie berufsunfähig machte, kam sie wieder auf ihren elterlichen Hof zurück. Diese Zeit war für sie sehr schwer, weil sie auch ihre mittlerweile pflegebedürftige Mutter versorgen musste. Mit ihrer körperlichen Einschränkung musste sie auch bei der Bewirtschaftung des Hofes viele Abstriche machen, aber daraus entwickelte sich im Laufe der Jahre ihr „wildes Paradies“. Sie lernte die Wildpflanzen, die in den Augen der Anderen Unkraut waren, als Schätze zu erkennen und zu nutzen. Sie zauberte sogar die köstlichsten Speisen aus ihnen, frei nach dem Motto „Gibt dir das Leben Zitronen, mache Limonade daraus!“. 

Den Unfall, gekoppelt mit der Rückkehr nach Hause, empfand Helga im Nachhinein als lebensrettend, denn das gab ihr die Chance, ihr gesamtes Leben um 180 Grad zu drehen. Ihr wachsendes Interesse an Umweltthemen veranlasste sie, ein dreijähriges Kontaktstudium in Oldenburg zu absolvieren. Während des Studiums widmete sie sich wieder mehr und mehr der Pflanzenkunde und wurde schließlich von ihren Mitstudenten animiert, ihr Wissen in Kursen anzubieten. Diese daraus entstehenden Seminare erfreuten sich einer wachsen¬den Beliebtheit. Am Anfang kamen die Teilnehmer von weit her zu ihr. Sogar aus Italien und Norwegen waren sie angereist, irgendwann kamen sie auch aus der Nachbarschaft. Das freute Helga ganz besonders. Denn das Naheliegende ist oftmals tatsächlich das Beste. „Vor unserer Haustür wächst im Prinzip alles, was wir für unsere Gesundheit brauchen”. „All’ns vör use Döör“ (von Ulla Haschen und Karl-Heinz Heilig, Anm. d. Red.) ist auch der Titel des 2007 erschienenen Dokumentarfilms über das Leben und Wirken von Helga Köhne aus Bohlenberge, einem idyllischen Ortsteil der Gemeinde Zetel in Friesland nahe der Nordseeküste.

Die zahlreichen verborgenen Fähigkeiten der Wildpflanzen, die so viel wirkstoffreicher sind als ihre kultivierten Vettern, kannte Helga wie kaum eine Zweite: „Man kann ganz ohne Pülverchen und Tabletten eine hochdosierte Vitamin- und Vitalstoffkur durchführen”, sagte sie oft. Helgas Überzeugung war, dass Menschen Lebensmittel und Pflanzen mit allen Sinnen erfahren müssen, um sie wirklich kennenzulernen. „Sehen, fühlen, riechen, schmecken“, wer so an Pflanzen herangeht und sich von seiner Intuition leiten lässt, der weiß auch, ob die fragliche Pflanze gut für ihn ist. Dies bekam die Kräuterkundige in ihren Seminaren oftmals bestätigt. Immer wieder suchten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Helgas weitläufigem Garten intuitiv genau die zurzeit für sie „richtigen” Pflanzen heraus, ohne vorher deren Namen oder Wirkungsweise zu kennen. „Natürlich ist es im zweiten Schritt wichtig, sich bei unbekannten Pflanzen von einem naturkundlichen Arzt oder Heilpraktiker über Wirkung und Anwendung der Pflanze unterrichten zu lassen.“ 

Wer meinte, Wildpflanzen wie Giersch, Brennnesseln oder Franzosenkraut seien zwar gesund, könnten jedoch unmöglich schmecken, den überzeugte Helga Köhne vom Gegenteil. Denn ein Verkosten der zubereiteten Pflanzen gehörte bei ihr immer dazu: „Es darf nie gesund – es muss immer nur gut schmecken.” Von vielen wurde sie deswegen die Aufstrich-Königin genannt.

 

Süßer Hagebutten-Aufstrich (frisch)

Foto: © Terra Arcanum
Foto: © Terra Arcanum

Man nehme die reifen roten Früchte der Rosa rugosa (Kartoffelrose). Die Hagebutten werden gewaschen, man entfernt die Blüte und den Stiel, schneidet sie auf und entfernt dann die Kerne. Die fertig vorbereiteten Hagebuttenschalen (das komplette rote Fruchtfleisch) nun mit etwas Honig mit dem Stabmixer pürieren. In dieser Form bleiben viele Vitamine wunderbar erhalten, da nichts erhitzt wird. Der Aufstrich ist im Kühlschrank einige Tage haltbar. Er lässt sich (nur mit Honigzugabe!) sehr gut einfrieren. Besonders das Entfernen der Kerne ist eine sehr zeitaufwändige Arbeit. Helga empfiehlt daher, eine kleine Menge vom Aufstrich herzustellen, die Familie probieren zu lassen und wenn die Familie begeistert ist, spannt man sie beim Herstellungsprozess mit ein. (Wer mitessen will, muss mitarbeiten!)

 

Helga Köhne: „Da diese Delikatesse ausnahmsweise etwas mehr Arbeit kostet, muss die ganze Familie mithelfen. Die Kerne und andere Reste nicht wegwerfen, sie werden für Tee getrocknet. Wenn ich etwas in die Hand nehme, soll auch alles verwertet werden! Damit es nicht ganz so mühsam ist, nehme ich gern die Kartoffelrose (Rosa rugosa). Ein Festessen wird bei mir mit selbstgemachtem Eis und Hagebutten-Honig-Mus gekrönt.“

 

„Viele kleine Leute in vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun,

können das Gesicht der Welt verändern.“ (Afrika)

 

Helga als Impulsgeberin – von Theresia de Jong (Herausgeberin)

Foto: Einklang Verlag
Foto: Einklang Verlag

Den Tag, an dem ich Helga kennenlernte, werde ich nie vergessen, obwohl inzwischen circa 25 Jahre vergangen sind. Ich hatte mich zu einem ihrer legendären Wildkräuterkurse angemeldet, der in der Zeitung angekündigt war. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass sie legendär werden würden. Dort wurde ich von einer Frau empfangen, die sofort in jedes Märchen gepasst hätte: Eine grüne Schürze, die Haare mit einem nach hinten geknoteten Kopftuch gebändigt, die Füße in Birkenstock-Sandalen und ein überaus herzliches, mütterliches Lächeln. „Wow, dass es sowas noch gibt“, dachte ich damals überrascht. In ihrem Seminarraum unter dem Dach stand ein langer Tisch überladen mit allerlei Leckereien und vielen Teekannen aus Glas. In ihnen sah ich allerlei frisches Grünzeug. 

Diese Tees wurden verdünnt getrunken. Dazu wurde ein wenig Tee aus der Kanne durch ein Teesieb in die Tasse gegossen und mit heißem Wasser aufgefüllt. Welche Geschmacksexplosion! Frischer Kräutertee schmeckt ganz anders als Tee aus getrockneten Blättern! Was für mich ein Segen war, denn bis dato mochte ich eigentlich keinen Kräutertee. Alsbald wurden wir nach draußen in ihren riesigen Garten geschickt, in dem alles so wuchs, wie es Mutter Natur arrangiert hatte. Ein gigantisches Dickicht aus den unterschiedlichsten Pflanzen, die mir teilweise bis über den Kopf wuchsen. Auf gemähten Wegen wanderte unsere kleine Frauengruppe durch Helgas Garten Eden und hielt Ausschau nach Pflanzen, die uns irgendwie ansprachen. Das war für die damalige Zeit durchaus verwegen. Wir wussten auch nicht, warum wir ein kleines Pflanzenteil mitbringen sollten. Das wurde uns allerdings klar, als sie jedem von uns auf den Kopf zusagte, welche gesundheitlichen Weh¬wehchen uns derzeit plagten. Große Überraschung bei allen. Woher wusste diese Frau, die uns alle zum ersten Mal sah, wo bei uns der Schuh drückte? 

Nun, wie sich herausstellte, war Helga überzeugt davon, dass jeder Mensch instinktiv weiß, was ihm/ihr fehlt. Wenn wir die passende Pflanze sehen, die uns helfen kann, ins natürliche Gleichgewicht zurück zu kommen, würden wir uns davon angezogen fühlen und sie auswählen. Dass dies funktionierte, hatte sie eindrucksvoll demonstriert. Und das hatte mich total überzeugt, denn es entsprach meiner eigenen Überzeugung, obschon ich mir zu diesem Zeitpunkt darüber noch gar nicht selbst klar war. 

Dieser Impuls war extrem wichtig für mein gesamtes Leben. Viele Kurse weiter, viele private Treffen später, schrieb ich Helgas Geschichte für ein Porträtbuch, an dem ich arbeitete: „Unerhört weise“. Helga war eine der ersten Frauen, die mir zum Thema Weisheit einfielen. Ihre Weisheit hier weiterzugeben ist mir ein echtes Anliegen. Damit gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ihre Weisheit nicht verloren geht, ist in den letzten Jahren, die wir als Autorinnenteam an diesem Projekt gearbeitet hatten, Ansporn für uns alle gewesen, dieses Buch nun tatsächlich herauszugeben.

 

Textauszüge mit freundlicher Genehmigung des Einklang-Verlages, Friesland. 

 

 

Das Helga Köhne Wildkräuterbuch

Autorinnen: Theresia de Jong, Tanja Michaela Meyer, Marleen Meinel

 

Siehe auch unter Wortwelten auf S. 54.

 


April - August 2023


Wildnis – unser Traum von unberührter Natur

Bild: © Enlightening Images – pixabay.com
Bild: © Enlightening Images – pixabay.com

Autor: Jan Haft

 

Was bedeutet eigentlich Wildnis? Der preisgekrönte Naturfilmer Jan Haft über einen Sehnsuchtsort für Naturliebhaber und ein wichtiges Konzept des Naturschutzes

Wenn man zu Fuß in einem Wildreservat in Afrika unterwegs ist oder durch einen amerikanischen Nationalpark wandert, erlebt man das Gefühl, der Natur bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert zu sein: die Weite, in der man sich verlaufen und verlieren könnte; die Absenz vertrauter Zeichen von Zivilisation (vor allem fehlender Mobilfunkempfang); die Möglichkeit, dass einem plötzlich ein großes Raubtier über den Weg läuft oder dass ein Gewitter heraufzieht, vor dem man sich nicht so einfach in Sicherheit bringen kann. In der Wildnis werden wir uns rasch unserer Grenzen bewusst, erahnen das große Ganze der Natur und spüren, dass wir – so auf uns alleine gestellt – nicht mehr als ein Staubkorn im Universum sind. 

Um die Natur als groß und uns selbst als kleines, aber zum Bild gehörendes Puzzleteil der Natur zu erleben, müssen wir jedoch nicht unbedingt weit reisen. Eine Bergtour durch ein abgelegenes Alpental oder eine Wattwanderung an der Nordsee können denselben Effekt haben. Und wenn wir uns erst richtig auf die Natur einlassen und genau hinschauen, genügt auch ein Streifzug durch eine Wiese, einen Wald, ein Moor oder das Verweilen im eigenen Garten. Auch hier können wir in das mannigfaltige Beziehungsgeflecht der Natur eintauchen und die großen und kleinen Wunder erleben, die die Evolution im Lauf der Erdgeschichte hervorgebracht hat. 

 

Ob in der Fremde oder in heimischen Gefilden, uns erfasst schnell das Staunen darüber, wie viele Arten da ihren eigenen Weg gehen, wie sie mit der belebten und unbelebten Umwelt in Beziehung treten und so ihren Lebensraum beeinflussen. Sie folgen Gesetzmäßigkeiten, die nicht von uns Menschen gemacht wurden, und erinnern uns daran, dass das Leben auf der Erde ohne uns entstanden ist und ohne uns zurechtkommt.

Wo allein die Gesetze der Natur regieren, da herrscht Wildnis. Ganz im Gegensatz zu jenen Orten, an denen wir Menschen die natürlichen Abläufe bestimmen. Die Savanne der Serengeti in Ostafrika, wo Abertausende Lebensformen sich das Land teilen und nach Jahrmillionen alten Regeln zusammenleben, ist offenkundig Wildnis. Und was ist bei uns?

Der Volksmund bezeichnet ungepflegte Gärten als »verwildert« und ungemähte Vegetation als »Wildwuchs«. Ist vielleicht ein wenig Wildnis überall dort, wo die Natur ungestört ihre Kräfte entfalten kann, wenigstens auf kleinstem Raum? Wo all jene Organismen, die eben da sind, auf ihre Mit- und Gegenspieler treffen und mittels ihrer im Laufe der Evolution erworbenen Strategien interagieren, und seien es nur die Blattläuse und Marienkäfer im Rosenstrauch vor der Terrasse?

 

Welche Kräfte und wie viele Prozesse sind unentbehrlich, damit ein Gebiet die Bezeichnung Wildnis verdient? Was fasziniert uns überhaupt daran, warum träumen viele Menschen von unberührter Wildnis als idealer Landschaft? Haben wir ein schlechtes Gewissen aufgrund unserer gar nicht mehr so intakten Umwelt, die die einen als Produkt einer schier  unüberschaubar komplexen Evolution betrachten und die anderen schlicht als Schöpfung? Unberührte, ursprüngliche Natur gibt es bei uns nicht mehr, denn hierzulande ist praktisch das gesamte Land vom Menschen überformt. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Wildnis entsteht, wenn wir ein ausgewähltes Gebiet sich selbst überlassen und aufhören zu bestimmen, was dort fortan passiert? Dieser entscheidenden Frage wollen wir in diesem Buch auf den Grund gehen. Was also ist Wildnis?

Wildlebende Tiere, Pilze und Pflanzen werden weltweit weniger, auch bei uns. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, dass vereinzelt große Tiere in unsere Landschaften zurückkehren. Biber, Wolf und Seeadler sind wieder häufig anzutreffen, weil wir ihnen nicht mehr hemmungslos nachstellen. Wie andere Rückkehrer auch, gehören sie alle zu jenen Spezies, die nicht viele Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, einst im ganzen Land zu Hause waren, jedoch aus unterschiedlichen Gründen fast bis zur Ausrottung bejagt wurden.

Die Mehrheit der bedrohten Arten stellt dagegen sehr wohl Ansprüche an ihren Lebensraum. Ansprüche, die unsere industrialisierte und für unsere Zwecke optimierte Landschaft immer weniger erfüllt. Während einige wenige Arten in unserer modernen Kulturlandschaft gut zurechtkommen, brauchen die meisten Organismen einen Lebensraum, der ursprünglicher Natur zumindest nahekommt. Wenn nur wenige Prozent unserer Landschaften so wären, wie sie waren, bevor sich der Mensch die Erde untertan machte, hätten wohl alle bedrohten Arten einen sicheren Hafen. Fragt sich nur, wie es bei uns einmal aussah. Und die nächste, vielleicht viel wichtigere Frage ist: Wie müssten neu geschaffene Wildnisgebiete heute am besten aussehen, damit wir den Artenschwund aufhalten können?

 

Hinter uns liegt die »UN-Dekade Biologische Vielfalt«. Sie wurde 2010 von den Vereinten Nationen ausgerufen, um zur Bewahrung der auf der ganzen Erde bedrohten biologischen Vielfalt zu werben. Im Hinblick auf diese weltweite Kampagne hatte die Bundesregierung 2007 beschlossen, dass zwei Prozent der Fläche Deutschlands Wildnis werden sollen. Die UNDekade verstrich, ohne dass viel passiert ist. Damals wie heute gelten nicht mehr als 0,6 Prozent der Fläche Deutschlands offiziell als Wildnis. Und: Können diese Gebiete die zentrale Aufgabe, die biologische Vielfalt zu sichern, überhaupt erfüllen? Laufen dort genügend natürliche Prozesse ab, um dem Begriff Wildnis wirklich gerecht zu werden?

Sieht man einmal vom Meer und dem Hochgebirge ab, sind unsere Naturschutzgebiete und Nationalparks überwiegend bewaldet. Wenn wir auf geräumten und beschilderten Wegen durch diese geschützten Wälder spazieren, sehen wir rechts und links abgestorbene Bäume. Sie stehen da als hölzerne Gerippe, liegen flach auf dem Boden oder sind kreuz und quer übereinander getürmt. Je nachdem von welchen Baumarten es stammt und wie feucht das tote Holz ist, ragen unterschiedliche Pilzkonsolen – die flachen, harten Fruchtkörper der Baumpilze – aus den Baumleichen. Aus liegenden Stämmen wachsen junge  Nadelbäumchen. Sie waren als nackte, aber geflügelte Samen hier gelandet, nach der ersten und letzten Reise ihres Lebens. Der Wind hat sie aus den Baumkronen herabgeweht, und nun stehen sie für den Rest ihrer Zeit an diesem Ort.

Was für ein Glücksfall! Pilze und Mikroorganismen zerlegen das abgestorbene Holz nach und nach in seine Bestandteile. In den Fraßgängen von Insekten sammeln sich deren Hinterlassenschaften und anderer Abfall. All diese freiwerdenden Nährstoffe lösen sich im Wasser, das der morsche Stamm nach jedem Regen aufsaugt. Die Baumleiche wird zu einem riesigen Powerriegel, und die Bäumchen obenauf können aus dem Vollen schöpfen. Zudem haben die Keimlinge hier gute Chancen, auf einen passenden Pilz zu treffen, der sich mit ihnen über die Wurzeln verbindet und im besten Fall eine lebenslange Symbiose eingeht. Vier Fünftel aller Gewächse leben in einer solchen Partnerschaft mit den Pilz-Wesen, die weder Tier noch Pflanze sind. Auf dem leicht erhabenen, modernden Holzkörper ist es außerdem etwas wärmer als auf dem Boden ringsum, was den Bäumchen ebenfalls zugutekommt. Das jahrzehntelange Vergehen des darniederliegenden Pflanzenriesen steht also nicht nur im übertragenen Sinne für Erneuerung und Wachstum, sondern es schafft dafür auch nahrhaften Boden. 

Wie viele kleine Bäume aus morschen Stämmen emporwachsen, ja wie viele Sprösslinge der Bäume überhaupt im Wald stehen, hängt aber nicht nur von dem Angebot an lebensnotwendigen Nährstoffen ab. Auch das verfügbare Sonnenlicht spielt eine große Rolle. Manche Baumarten vertragen in ihrer Jugend Schatten gut, andere überhaupt nicht, was zu dem bemerkenswerten Umstand führt, dass eine Art wie die Eiche in einem durchschnittlichen Wald ohne Förster auf Dauer nicht überleben kann. Auch wenn eine ausgewachsene Eiche noch jahrhundertelang in einem dichten, schattigen Wald gedeiht; ihr Nachwuchs hat hier wegen des Lichtmangels und der Konkurrenz durch schneller wachsende Gehölze keine Chance emporzukommen.

Begegnen wir einem abgestorbenen Baum, aus dem jede Menge Pilzkonsolen ragen, erschaudern wir bei dem Gedanken, dass er vielleicht zweihundert Jahre lang wuchs, dass er seit einem Jahrzehnt hier als Baumleiche steht, bis er irgendwann umfällt und  anschließend ein halbes Jahrhundert lang am Boden vergeht. Was für Zeiträume!

 

Für uns Naturliebhaber liegt ein großer Zauber darin, wenn auf einem Fleckchen Erde der Mensch keinen Einfluss mehr nimmt und die Natur nur noch ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Der Plural »Gesetzmäßigkeiten« weist darauf hin, dass es viele verschiedene sind. Diese Naturgesetze äußern sich in unterschiedlichen Prozessen wie Feuer, Sturm, Hochwasser oder der Massenvermehrung von sogenannten Forstschädlingen, die ihre Wirkung auf Landschaft und Vegetation frei entfalten dürfen. Dort, wo sie ungehindert ablaufen, ist Wildnis, das haben wir eingangs bereits festgestellt. „Prozessschutz« heißt daher das offizielle Schlüsselwort für Schutzgebiete, in denen der Mensch nicht oder nicht mehr eingreift. (…) Sie umfassen meist Flächen, die irgendwann aus der Nutzung genommen wurden. Oftmals weil sich eine Bewirtschaftung ohnehin nicht mehr lohnte, immer jedoch mit dem Ziel, der Natur Raum zur Entfaltung zu geben.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Penguin Verlages.

Siehe auch unter „Wortwelten“.

 

 

Jan Haft: 

Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur

Penguin Verlag, 144 Seiten, 18 € 

 


Dezember 2022 - April 2023


Streicheln oder schlachten?

Foto: © Sandra – www.pixabay.com
Foto: © Sandra – www.pixabay.com

Autor: Marcel Sebastian

 

Der Beziehungsstatus zwischen Menschen und Tieren ist kompliziert. Während wir als Gesellschaft einige Tiere als Individuen wahrnehmen, die ein Recht auf ihr eigenes Leben haben, betrachten wir andere vor allem durch die Brille ökonomischer Verwertbarkeit. Beziehungen zu Hunden und Katzen sind von Liebe und Zuneigung geprägt, und diese Liebe scheint bei einigen Menschen schier grenzenlos. Begegnungen mit Wildtieren lösen oft tiefe Faszination und Ehrfurcht aus: Den Tränen nah beobachten manche von uns Wölfe, Wale und Adler in freier Natur. Die Existenz der einen Tierart ist uns unbekannt, für das Überleben der anderen sammeln wir Millionenbeträge an Spenden. Manche Tiere werden sogar als heilig verehrt. Die tiefe symbolische Bedeutung von Tieren kommt auch in Märchen, Mythen und Sprichwörtern zum Ausdruck. »Schlau wie ein Fuchs« oder »scheu wie ein Reh« sind wir manchmal. Aber auch »dumm wie ein Schwein«.

Andere Mensch-Tier-Beziehungen sind von Abneigung und Angst geprägt. Ratten oder Kaninchen werden in vielen Städten als Schädlinge bekämpft und verdrängt. Spinnen sind in den meisten Wohnungen ungebetene Gäste und werden wahlweise zerdrückt oder von friedfertigeren Gemütern auf dem Balkon ausgesetzt.

Wenig friedfertig gehen wir Menschen mit den Tieren um, die zu Schnitzel, Wurst und Nackensteak verarbeitet werden. Besonders die industrielle Haltung von Hühnern und Schweinen wird von vielen Menschen als Massentierhaltung kritisiert und abgelehnt. Trotzdem essen die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften Fleisch.

 

Auch wir sind Tiere

Unsere Beziehungen zu Tieren sind also uneindeutig. Das fängt schon bei den Bezeichnungen an, mit denen wir über diese Beziehung sprechen. Die geläufige Gegenüberstellung »Mensch und Tier« suggeriert, dass sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen: Hier die Menschen, dort die Tiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Der Begriff »Tier« ist ein Containerbegriff, in den wir die unterschiedlichsten Tierarten von der Wüstenspringmaus bis zum Orang-Utan einordnen. Wenn über »das Tier« im Allgemeinen gesprochen wird, geht es nicht um konkrete Tierarten, sondern um die Abgrenzung des Menschen gegenüber Tieren. Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, dass auch Menschen biologisch zu den Tieren gehören. Wir als Homo Sapiens sind die letzte überlebende Sapiens-Art und damit eine Tierart unter vielen.

Und doch ist unsere Spezies etwas sehr Besonderes. Wie kein anderes Tier sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu verändern, Kultur zu entwickeln und über uns und die Welt zu sinnieren. Dass Sie dieses Buch lesen, ist ein Ausdruck Ihrer Einzigartigkeit. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein ganz besonderes Tier! Wir Menschen sind in der Lage, über unser Geschick und das der uns umgebenden Welt erheblich mitzubestimmen. Aber wie wir mit dieser Macht umgehen, hat weitreichende Konsequenzen. Und je größer unsere Macht über die Welt, desto größer ist auch unsere Verantwortung. Wie wir beispielsweise als Gesellschaft die Herstellung von Nahrungsmitteln organisieren, hat unmittelbare Folgen für Tiere und Umwelt. Unsere Fähigkeiten der Weltgestaltung spannen vielfältige Möglichkeiten vor uns auf. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu bewerten und unser gemeinsames Handeln an diesen Werten auszurichten. Behalten Sie die Frage der Verantwortung beim Lesen dieses Buchs im Hinterkopf, denn sie geht auch Sie persönlich etwas an! (…)

Doch bevor wir tiefer in die Mensch-Tier-Beziehung eintauchen, möchte ich Ihnen gleich zu Anfang drei ernüchternde Botschaften mit auf den Weg geben.

 

Erstens: Unser Verhältnis zu Tieren ist keine Privatsache

Wäre es eine Privatangelegenheit, würde es absolut niemanden etwas angehen, was Sie mit Tieren anstellen. Sie mögen sich zwar selbst entscheiden, ob Sie Fleisch essen, vegetarisch oder vegan leben – der Staat zwingt Sie weder zum Verzehr von Fleisch noch von Tofu –, aber die Beziehung zwischen Menschen und Tieren ist gesellschaftlich vermittelt: Die Politik definiert die Grenzen der rechtlich erlaubten Behandlungsweisen von Tieren, und die Justiz kann Menschen, die gegen Tierschutzgesetze verstoßen, bestrafen. Allein aus diesen Gründen ist die Mensch-Tier-Beziehung keine reine Privatangelegenheit. Aber auch wenn jemand nicht gegen Tierschutzgesetze verstößt, bedarf das eigene Verhalten gegenüber Tieren der Legitimation, da wir als Gesellschaft Tieren eine moralische Relevanz zuerkennen. Heute fragen wir uns nicht (mehr), ob unser Verhalten gegenüber Tieren moralisch von Bedeutung ist, sondern vielmehr, wo die Grenzen des moralisch vertretbaren Verhaltens liegen. Fleisch zu essen ist beispielsweise keine Straftat, bedarf aber dennoch einer Begründung. Wenn Ihnen das wenig einsichtig erscheint, fragen Sie sich selbst, warum Sie keine Hunde essen, und schon stecken Sie mitten in der Diskussion, wo die Grenze zwischen gut und schlecht, zwischen ›essbaren‹ und ›befreundeten‹ Tieren verläuft. Lassen Sie uns der spannenden Frage nachgehen, inwiefern diese unterschiedlichen Begründungen auf gesellschaftliche Zustimmung oder Ablehnung stoßen und welche Folgen das für uns als Gesellschaft hat.

 

Zweitens: Wir müssen uns vor Vereinfachungen hüten

Viele Menschen neigen dazu, sich schnell eine klare Meinung zu bilden. Wenn es um Tiere geht, scheint das besonders häufig der Fall zu sein. Oftmals verlieren wir dadurch aber den Blick für die Komplexität der Dinge. Die Konflikte über die Mensch-Tier-Beziehung sind eine große, oft unübersichtliche Gemengelage aus unterschiedlichen Menschen und Gruppen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen und Interessen haben. Wenn wir verstehen wollen, wieso unsere Beziehungen zu Tieren so kompliziert und widersprüchlich sind, müssen wir die unterschiedlichen Perspektiven systematisch in den Blick nehmen. Wir müssen versuchen, auch Positionen, die uns wenig plausibel erscheinen, in ihrer inneren Logik zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir sie auch übernehmen müssen. Die aufmerksame, systematische Betrachtung sollte stets vor einer Bewertung stehen. Erst wenn wir ein möglichst gutes Bild der Situation haben, können wir ein fundiertes Urteil entwickeln. Das ist nicht nur ein Wissenschaftsideal, ein fundiertes Urteilen ist gut für jede Streitkultur!

 

Drittens: Komplexe Problemlösungen brauchen Zeit

Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass wir den gesellschaftlichen Streit über Tiere in absehbarer Zeit beilegen können. Die verschiedenen Konfliktparteien stehen sich zum Teil so unversöhnlich gegenüber, dass es wohl noch lange brodeln wird. Zugeständnisse für die eine Gruppe lösen oft Empörung und Protest bei einer anderen Gruppe aus. Dass wir alle direkt oder indirekt in den Streit über Tiere eingebunden sind, macht die Sache nicht einfacher. Es scheint, als sei die Gesellschaft in unterschiedliche Lager aufgeteilt. Je mehr Einfluss ein Lager gewinnt, desto heftiger reagiert die Gegenseite. Diese Polarisierung können wir auch in Bezug auf viele weitere Themen wie Nachhaltigkeit, Integration oder Geschlechtergerechtigkeit feststellen. Wir stecken mitten in einer Phase der kollektiven kulturellen Selbstfindung – und bisher ist nicht klar, welche Sichtweise am Ende die Oberhand gewinnt.

Seit die Tierfrage auf die Agenda der deutschen Nachkriegsgesellschaft gehievt wurde, scheint die Suche nach dem richtigen Verhältnis zu Tieren immer stärker zu polarisieren. Tierrechtler*innen gelten längst nicht mehr als Verrückte und der Veganismus ist insbesondere bei jungen Menschen beliebter denn je. Gleichzeitig sind viele Deutsche nicht bereit, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und beschweren sich über moralische Bevormundung. Ich glaube, dass die Lösung aus dem Dilemma nur in einer aufgeklärten, öffentlichen Debatte bestehen kann. Die Tiere stehen auf der öffentlichen Agenda und werden von dort so schnell nicht wieder verschwinden. Ich lade Sie ein, sich in diese Debatte einzumischen. (…)

 

Wie wir über Tiere streiten

Ende Juli 2016 spielen sich dramatische Szenen in der Nähe des Herforder Weddingenufers ab. Gegen acht Uhr morgens läuft eine Entenmutter aufgeregt schnatternd auf der Straße umher. Ihre Jungen schnattern nicht weniger aufgeregt, denn sie sind in einen nahe gelegenen Gully gefallen und kämpfen dort um ihr Leben. Aus eigener Kraft schaffen es die Küken nicht, sich aus ihrem anderthalb Meter tiefen Gefängnis zu befreien. Zum Glück spaziert zu diesem Zeitpunkt Frau W. in Begleitung ihres Yorkshire-Mischlings Lui am Weddingenufer entlang und beobachtet die Szene. Sie alarmiert die Feuerwehr. Der Lokalzeitung berichtet Frau W. später, die Küken seien um ihr Leben geschwommen und hätten sich kaum mehr über Wasser halten können. Das Kommando über den Rettungseinsatz übernahm der Leiter der örtlichen Feuerwehr, denn »Entenrettung ist eben Chefsache«, wie die Zeitung zu berichten weiß. Sein Kollege Peter L., »Geflügelexperte« der Herforder Feuerwehr, legt sich flach auf den Boden, um die kleinen Enten zu erreichen. Mit einer Schöpfkelle fischt er die entkräfteten Küken einzeln aus dem Gully. Ein weiterer  Kollege übernimmt die Erstversorgung und legt die durchnässten Küken behutsam in einen Karton. Nach der geglückten Entenrettung vereinen die Männer der Feuerwehr Mutter und Kinder. Die Entenfamilie wird zum nahe gelegenen Ufer gebracht und dort in die Freiheit entlassen. Doch Peter L. ist besorgt. Möglicherweise waren die Strapazen für eines der Küken zu anstrengend, es schien unterkühlt. Seine Sorgen teilt er mit der Lokalzeitung. »Hoffen wir mal, dass ein paar Sonnenstrahlen, etwas Nahrung und ganz viel Fürsorge dafür sorgen, dass es wieder zu Kräften kommt«, so der Retter.

 

Enten in parallelen Universen

Zeitungsartikel wie dieser sind kein Einzelfall. Sie folgen einem klaren erzählerischen Muster: Die Enten sind handelnde Subjekte mit einem individuellen Charakter. Wir können uns mit ihrem Schicksal und ihren Sorgen identifizieren und fiebern mit der Entenmutter um das Überleben ihrer verunglückten Küken. Auf die Rettung der Tiere und die Wiedervereinigung der Entenfamilie reagieren wir mit Freude und Erleichterung. Für das gute Ende der Geschichte gibt es nur eine Option: Die Enten sollen überleben.

 

Doch es lassen sich auch ganz andere Geschichten über Enten erzählen. Sie sind alle gleich und klingen etwa so: Unsere Ente schlüpft in einem Brütereibetrieb in Sachsen-Anhalt. An ihrem Geburtstag werden in der Brüterei noch rund 25.000 weitere Peking-Enten vom Typ »Cherry Valley« zur Welt gebracht. Cherry-Valley-Enten können nicht fliegen, dafür aber in Rekordzeit fett werden. Das nennt man eine gute »Mastleistung«. Weil Cherry Valleys körperlich optimal an ihre landwirtschaftliche Verwertung angepasst sind, gehören sie zu den profitabelsten Mastenten. Spezialfutter sorgt dafür, dass sie schnell ein »schlachtreifes« Körpergewicht erreichen, weil es auf die unterschiedlichen Phasen ihres Wachstums angepasst ist. Anfangs macht es sie robust: Darm und Skelett sollen für die körperlichen Belastungen der Mast vorbereitet werden. Das »Entenendmastfutter« hat dann das Ziel, möglichst effizient Muskel- und Fettgewebe aufzubauen. In der Entenmast verwandeln sich Küken innerhalb von vierzig Tagen in lebende Rohstofflager. In den Mastanlagen, so erklären die Betreiber*innen, werden die Tiere unter Einhaltung strenger gesetzlicher Vorgaben und mit viel Know-how versorgt und betreut, bis sie »Schlachtreife« erlangt haben.

 

Aktivist*innen der Tierrechtsbewegung zeichnen ein ganz anderes Bild und beschreiben die Zustände als Hölle auf Erden. (…) Diese zwei Entengeschichten scheinen in Paralleluniversen des Mensch-Tier-Verhältnisses zu spielen. Es drängt sich die Frage auf, welche der Geschichten denn nun einen angemessenen Umgang mit Enten widerspiegelt.

 

Textauszug aus

„Streicheln oder schlachten?“

von Marcel Sebastian

mit freundlicher Genehmigung des Kösel-Verlages.

 

Siehe auch unter „Wortwelten“.


August - Dezember 2022


Die Schönheit der Erde ist eine Glocke der Achtsamkeit

© Bild: Albrecht Fietz auf Pixabay.com
© Bild: Albrecht Fietz auf Pixabay.com

Autor: Thich Nhat Hanh

 

Wenn Sie diese Schönheit nicht sehen, sollten Sie sich fragen, warum. Vielleicht steht Ihnen etwas im Weg oder Sie sind so sehr damit beschäftigt, nach etwas anderem Ausschau zu halten, dass Sie den Ruf der Erde nicht hören.

Mutter Erde sagt: »Mein Kind, ich bin für dich da; ich biete dir all dies an.« Es ist wahr: die Sonnenstrahlen, das Vogelgezwitscher, die klaren Bäche, die Kirschblüten im Frühling und die Schönheit der vier Jahreszeiten – das alles ist für Sie da. Wenn Sie es nicht sehen oder hören können, liegt das daran, dass Sie zu viel im Kopf haben.

 

Die Erde sagt Ihnen, dass sie da ist und dass sie Sie liebt. Jede Blume ist ein Lächeln der Erde. Sie lächelt Ihnen zu, doch Sie wollen nicht zurücklächeln. Die Frucht in Ihrer Hand – vielleicht eine Orange oder eine Kiwi – ist ein Geschenk der Erde. Verspüren Sie aber keine Dankbarkeit, dann sind Sie nicht wirklich für die Erde und das Leben da.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, den Ruf der Erde zu hören und ihr zu antworten, ist Stille. Ohne innere Stille werden Sie ihren Ruf nicht hören: den Ruf des Lebens. Ihr Herz ruft Sie, aber Sie hören es nicht. Sie haben keine Zeit, auf Ihr Herz zu hören.

 

Achtsamkeit hilft uns, uns nicht länger abzulenken und zu unserer Atmung zurückzukehren. Indem wir mit der Aufmerksamkeit nur bei unserer Ein- und Ausatmung sind, hören wir auf zu denken und erwachen innerhalb weniger Sekunden zu der Tatsache, dass wir lebendig sind, dass wir einatmen, hier sind. Wir existieren. Wir sind nicht nicht existent. Wir erkennen: »Ahhh, ich bin hier, ich bin lebendig.« Wir hören auf, an die Vergangenheit zu denken, wir hören auf, uns über die Zukunft zu sorgen, wir richten unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass wir atmen. Unser achtsames Atmen befreit uns. Wir sind frei, ganz gegenwärtig zu sein: frei von Gedanken, Angst, Sorgen und Streben.

 

Sind wir frei, können wir auf den Ruf der Erde antworten. »Ich bin hier. Ich bin dein Kind.« Wir erkennen, dass wir Teil des Wunders sind. Und wir können sagen: »Ich bin frei: frei von all dem, was mich daran hindert, ganz und gar lebendig zu sein. Du kannst dich auf mich verlassen.«

 

Wenn Sie erwachen und erkennen, dass die Erde nicht nur Umwelt ist, sondern dass Sie die Erde sind, dann berühren Sie die Natur des Interseins, unsere wechselseitige Verbundenheit und Verwobenheit. Und in diesem Moment treten Sie in eine echte Kommunikation mit der Erde ein. Das ist die höchste Form des Gebets. In dieser Art Beziehung werden Sie über die Liebe, die Kraft und das Erwachen verfügen, die Sie für die Veränderung Ihres Lebens benötigen.

 

Viele von uns haben sich der Erde entfremdet. Wir vergessen immer wieder, dass wir hier auf einem wunderschönen Planeten leben und dass unser Körper ein Wunder ist, welches wir der Erde und dem gesamten Kosmos zu verdanken haben. Die Erde vermochte Leben hervorzubringen, weil sie auch Nicht-Erde-Elemente in sich trägt, darunter die Sonne und die Sterne. Die Menschheit ist aus Sternenstaub entstanden. Die Erde ist nicht nur die Erde, sondern der gesamte Kosmos.

 

Nur mit dieser Sichtweise und Einsicht werden Sie Ihre wertenden Unterscheidungen aufgeben und sich mit der Erde tief verbunden fühlen. Daraus wird sich viel Gutes entwickeln. Sie sehen die Dinge nicht länger auf dualistische Weise und überwinden die Vorstellung, dass die Erde nur die Umwelt mit Ihnen im Zentrum ist und Sie nur dann etwas für die Erde tun wollen, wenn es Ihrem Überleben dient. Werden Sie sich beim Einatmen Ihres Körpers bewusst, schauen Sie tief in Ihren Körper hinein und erkennen Sie, dass Sie die Erde sind und dass Ihr Bewusstsein das Bewusstsein der Erde ist und es zu einem befreiten Bewusstsein werden kann, frei von jeglichen wertenden Unterscheidungen und falschen Ansichten. Damit werden Sie das, was Mutter Erde von Ihnen erwartet: erleuchtet, ein Buddha, sodass Sie allen Lebewesen helfen können, nicht nur auf der Erde, sondern letztlich auch auf anderen Planeten. 

 

Meine Generation hat viele Fehler gemacht. Wir haben uns diesen Planeten von den jüngeren Generationen geliehen, und wir haben ihm immensen Schaden zugefügt und große Zerstörung angerichtet. Wir sind beschämt, ihn jetzt so zu übergeben, und hätten es uns anders gewünscht. Ihr Jungen erhaltet einen wunderschönen, aber beschädigten, verwundeten Planeten. Das tut uns leid. Als jemand der älteren Generation hoffe ich, dass die junge Generation so schnell wie möglich aktiv wird. Dieser Planet gehört euch, den zukünftigen Generationen. Euer Schicksal und das Schicksal des Planeten liegen in euren Händen.

 

Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation, die auf Pump lebt. Wann immer wir uns etwas anschaffen, das wir uns nicht leisten können, wie ein Haus oder ein Auto, setzen wir darauf, dass wir in der Zukunft in der Lage sein werden, die Schulden zurückzuzahlen. Wir leben auf Pump, ohne zu wissen, ob wir das alles jemals zurückzahlen können. Auf diese Weise sind wir bei uns selbst, unserer Gesundheit und unserem Planeten zu Schuldnern geworden. Aber der Planet kann das nicht mehr tragen. Wir haben uns auch zu viel von unseren Kindern und Enkelkindern geliehen.

 

Der Planet und die zukünftigen Generationen sind auch wir; wir sind nicht voneinander getrennt. Der Planet sind wir, und die zukünftigen Generationen sind auch wir. Die Wahrheit ist aber, dass von uns selbst nicht mehr sehr viel übrig ist. Von daher ist es sehr wichtig, dass wir aufwachen und erkennen: Wir müssen uns nichts mehr ausleihen. Was uns im Hier und Jetzt zur Verfügung steht, reicht vollkommen aus, damit wir uns genährt und glücklich fühlen. Das Wunder von Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht besteht in der Erkenntnis, dass wir glücklich mit den uns verfügbaren Bedingungen sein können, dass wir nicht danach streben müssen, immer mehr zu bekommen und dafür den Planeten auszubeuten. Wir müssen nicht mehr auf Pump leben. Nur mit dieser Art von Erwachen können wir die Zerstörung stoppen.

 

Das ist keine individuelle Angelegenheit. Wir müssen gemeinsam aufwachen. Und wenn wir gemeinsam erwachen, dann haben wir eine Chance. Unsere Lebensweise und Zukunftsplanung haben uns in diese Situation geführt. Und jetzt müssen wir genau hinschauen, um einen Ausweg zu finden, nicht nur individuell, sondern kollektiv, als Menschheit. Man kann nicht mehr auf die ältere Generation allein zählen. Ich habe oft gesagt, dass ein Buddha nicht ausreicht; wir brauchen ein kollektives Erwachen.

 

Wir alle müssen Buddhas werden, damit unser Planet eine Chance hat.

 

Textauszug aus „Zen und die Kunst, die Welt zu retten“ von Thich Nhat Hanh, mit freundlicher Genehmigung des Lotos Verlages.
Siehe auch bei „Wortwelten“.

Aus "Am Waldesrand"

Thich Nhat Hanh


Dezember 2021 - April 2022


Bakterien – unterschätzte Alleskönner

© cocoparisienne - Pixabay.com
© cocoparisienne - Pixabay.com

Autor: Peter Wohlleben

Diskussionen mit Kritikern machen Spaß, und aus diesem Grund luden mein Sohn Tobias (Geschäftsführer der Waldakademie) und ich einen meiner größten Kritiker zu uns nach Wershofen ein. Schnell entflammte eine hitzige Diskussion, die schließlich in der Frage der Artenvielfalt im Wald mündete. Der Hochschulprofessor und Forstwissenschaftler, der das Treffen ausdrücklich unter Ausschluss von Medienvertretern stattfinden lassen wollte, war ein glühender Verfechter der Forstwirtschaft. Auflichtungen durch Baumfällungen seien eine Wohltat für die Natur, befand der Professor. Die Holzernte und damit die Erwärmung der Bestände durch Sonneneinstrahlung würden die Artenvielfalt signifikant erhöhen, so seine pauschale Aussage. Bei derartigen Behauptungen muss ich immer schmunzeln, denn nicht nur ich halte sie für grundsätzlich unwissenschaftlich. Um eine Erhöhung der Artenvielfalt festzustellen, muss man sie vorher genau ermitteln, sprich, alle Spezies zählen. Nach Durchführung einer Baumfällaktion kann man diese Zählung erneut durchführen und dadurch ganz einfach mathematisch feststellen, ob es in Summe mehr oder weniger Arten sind als vorher. Das Dumme ist nur, dass man nicht ansatzweise weiß, wie viele verschiedene Wesen in der heimischen Natur unterwegs sind. 

Eine Ahnung davon, welche Vielfalt sich allein im Boden tummelt, vermittelte die Untersuchung eines Teams um Kelly Ramirez von der Colorado State University in Fort Collins. Die Forscher zogen rund 600 Bodenproben im New Yorker Central Park und analysierten anschließend das darin enthaltene genetische Material. Sie fanden darin Spuren von 167 169 verschiedenen Arten – alles Kleinstlebewesen vom Kaliber von Bakterien, davon bisher unbekannt: rund 150 000! Ich frage gerne bei Begegnungen mit Forscherinnen und Forschern, wie sie die Zahl der unbekannten Arten einschätzen, und das Ergebnis dieser persönlichen Umfrage liegt bei ungefähr 85 Prozent. Es sind also nur geschätzte 15 Prozent aller Arten in Deutschland bekannt; global dürfte das Ergebnis in einer ähnlichen Größenordnung liegen. 

 

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ÖkoSchamanismus

Autor: Wolf Ondruschka

 

Wege zur Heilung von Mensch und Erde

 

Der alte Mann muß das Auto wohl zwei dutzend Mal angehalten haben, um auszusteigen und mit seinen Händen die kleinen Kröten einzusammeln, die über die Straße hüpften. Regen fiel, und ich sagte immer wieder: “Du kannst sie nicht alle retten. Steig ein, wir haben noch viel vor.” Doch er, die Hände voll feuchten, braunen Lebens, lächelte nur und sagte: “Auch sie haben noch viel vor.” Joseph Bruchac, Abenaki

 

'Ökologischer Schamanismus' ist eigentlich eine Tautologie, ein hölzernes Holz, denn von Natur aus ist Schamanismus ökologisch. Sein Entstehen ist kaum vorstellbar ohne das Verständnis einer tiefen Verbundenheit des Menschen mit der Natur – denn alles ist mit allem verbunden, weil alles Seele  besitzt. Und dies ist kein Glaubenssatz: Menschen, die den schamanischen Weg gehen, machen diese Erfahrung, die sie keineswegs als “übernatürlich”, sondern als zutiefst natürlich erleben.

 

Der besondere Beitrag des Schamanismus zum großen Thema der ökologischen Heilung besteht darin, sein Wissen zur Verfügung zu stellen und Orientierung zu geben. Welchen Sinn hätte die Renaissance dieser uralten spirituellen Tradition, wenn sie nicht gebraucht würde? Die Menschheit findet bisher die scheinbar einzige Antwort auf die bedrohliche ökologische Situation in technisch-materieller Hinsicht. Immerhin, aber viele Menschen haben die berechtigte Befürchtung, dies sei zu kurz gedacht.

 

Ein Weg mit Herz

Wie kann es gelingen, die Sorge für unseren Planeten zur Herzensangelegenheit zu machen und sie vom Ballast menschenzentrierten Denkens zu befreien? Saint-Exupery sagt: “Wenn du Menschen dazu bringen willst, ein Boot zu bauen, dann wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem Meer.” Wie können wir also die Sehnsucht nach einer wirklich heilen Welt wecken, damit die Zerstörung aufhört?

 

Moderne Schamanen können sich dazu aufgerufen fühlen, das Bewußtsein für ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller Lebensformen zu wecken: Unser Herz muß berührt sein, denn wir können kaum Gutes bewirken, wenn wir aus einem überwiegend intellektuellen Verständnis handeln, das bemüht ist, die Dinge nach den eigenen Vorstellungen zu richten. Der Intellekt erreicht nicht jene tiefseelischen Bereiche, in denen heilende Transformation stattfinden kann, während zeremonielle Praxis diesen Zugang auf oft verblüffend einfache Weise erlaubt. Im Artikel “Gesundheit für Mensch und Erde – der schamanische Weg” (Achtsames Leben, Aug – Dez 2020) berichtete ich über einige beeindruckende Beispiele heilend-zeremonieller Zusammenarbeit mit den Naturkräften.

 

Leben im Gleichgewicht

Die Stille des Lockdowns vergangenes Jahr brachte sehr viele Menschen gerade der wohlhabenderen Länder zu tieferen Einsichten und machte deutlich, wie kritisch unser täglicher Lebensstil für die Erde ist: Was wir der Erde nehmen, verlieren wir selbst auch, aber was wir ihr geben, erhalten wir persönlich und als Menschheit zurück – und dies ist, siehe oben, mehr als nur ein schöner spiritueller Kalenderspruch. Der Huichol-Schamane Matsuwa sagt: “Ich kann sehen, dass viele mit ihrem eigenen kleinen Leben so beschäftigt sind, dass sie nicht genügend Kraft haben, um ihre Liebe bis zur Sonne hoch, ins Meer hinaus oder in die Erde hinein reichen zu lassen … Sie vergessen die Naturelemente, vergessen die Quelle ihres eigenen Lebens … Diese Dinge sollte man üben … Eines Tages wird dir das Meer ein Herz geben. Das Feuer wir dir ein Herz geben. Die Sonne wird dir ein Herz geben.” Aus: “Herz des Nordens”, Ailo Gaup

 

Wenn wir der Erde zuhören, wird uns das verändern. Weil Menschen zu wenig Erdenergie aufnehmen, gibt es all das Unheil. Letztlich ist eine Entscheidung zu treffen: Es beginnt bei mir und bei dir, oder es beginnt überhaupt nicht.

Siehe auch www.medizinradgeber.de und “Geh den Weg des Schamanen” von Wolf Ondruschka bei 'Neue Erde',

erhältlich bei www.buchhandlung-plaggenborg.de .


August - Dezember 2021


Besonders: Schmetterlinge

Autor: Michael Altmoos 

Wir Menschen blicken auf Schmetterlinge. Wie aber sähen diese selbst die Welt? Wechseln wir die Perspektive und nehmen die uns ungewohnte Sicht von Faltern ein. (...) 

 

Tagebuch eines Tagpfauenauges: normal unnormale Enthüllungen 

Sensation! Im Steinbruch Staudernheim, »Nahe der Natur«, wurde das Tagebuch eines Tagpfauenauges (Inachis [Aglais]io) entdeckt. Wie es hinterlassen und entziffert wurde, darüber schweigen die Experten. Hier die Übertragung in unsere Schrift:

25. Mai Ei vorbei. Ich bin da als Räupchen. Hunger!

26. Mai Bin nicht allein, wir sind viele, alle weiß-grün. Doch viele Eier blieben zu. Man munkelt was von Parasiten. Habe Angst. Aber noch mehr Appetit. Super Brennnessel, schön warm in der Sonne. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen. 🦋 Brennesselecke – S. 61

30. Mai Fühle mich verspannt. Haut muss weg. Ich wachse schnell.

1. Juni Heute hat es Theo und Trine erwischt. Vom Himmel hoch, da kam es her. Mein Gott, ein Schnabelmonster! Obwohl wir doch für die als Raupen nicht wohlschmeckend sind. Das müssen die doch wissen! Na ja, die Ausbildung der Monster ist wohl auch nicht mehr das, was sie mal war.

3. Juni Habe Riesenhunger, den ganzen Tag, jeden Tag.

6. Juni Wir sind jetzt graubraun. Gespinstbau angesagt. Wir überziehen die Brennnessel. Schön kuschelig.

 

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Ein Stadtmensch im Wald

Autor: H.D. Walden (Linus Reichlin)

 

Als die Seuche ausbrach, zog ich mich ins Ruppiner Wald- und Seengebiet zurück. Es ist eine Gegend voll stiller Vergangenheit, die sich weniger an historischen Baudenkmälern zeigt als an der Weite des Landes, durch das lange Alleen von ehrwürdigen Bäumen führen. Die einst– und nicht nur einmal– verwüsteten Landstriche hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm nach dem Dreißigjährigen Krieg mit Kolonisten aus der Schweiz peubliert. Deren Nachfahren leben heute in idyllischen Straßendörfern und verkaufen Eier an die vorbeifahrenden Touristen aus Berlin, die ihnen an Freundlichkeit nicht das Wasser reichen können. Weite, hügelige Äcker, deren Trockenheit portugiesische Ausmaße angenommen hat, und poetische Wälder prägen die Landschaft, in der man beim Wandern über Stunden keinem Menschen begegnet, was während einer Epidemie ein sorgloses Durchatmen erlaubt. In den Nächten spannt sich über die von strohgelbem, durstigem Gras bewachsenen Weiden ein grandioser Sternenhimmel, der in die Tiefe des Universums blicken lässt oder ließe, wenn es nachts wegen der sandigen Böden nicht fast immer saukalt wäre. 

 

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„Jeder Mensch…“ - für neue Grundrechte in Europa

© Florian Pircher – pixabay.com
© Florian Pircher – pixabay.com

AutorInnen: Stiftung Jeder Mensch e.V.

 

Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Regierungen der EU-Mitgliedstaaten 

Diese Initiative wird von Stiftung Jeder Mensch e.V. organisiert. 

 

Wir fordern sechs neue Grundrechte

Ein Verfassungskonvent soll die Charta der Grundrechte der Europäischen Union um folgende Grundrechte erweitern:

 

Artikel 1 – Umwelt: Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. 

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung: Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten. 

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz: Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen. 

Artikel 4 – Wahrheit: Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5 – Globalisierung: Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden. 

Artikel 6 – Grundrechtsklage: Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

 

Warum ist das wichtig?

Die Politik scheint mit sechs der größten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr zurecht zu kommen: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat. Wir alle wollen in einer gesunden und geschützten Umwelt leben. Wir wollen selbstbestimmt das Internet nutzen, ohne ausgeforscht und manipuliert zu werden, wir wollen intelligenten Maschinen vertrauen können und nicht durch sie bedroht werden. Wir haben gesehen, dass die Wahrheit und nicht die Lüge die Voraussetzung unserer Demokratie ist, und wir wollen die Ausbeutung von Menschen in einer globalen Welt beenden. Die alten Verfassungen Europas kennen auf die enormen Umwälzungen der letzten Jahre keine klaren Antworten.

 

Ferdinand von Schirach erklärt in seinem Buch JEDER MENSCH, welche Kraft in den Versprechen von Verfassungen steckt, ganz besonders in den darin verbürgten Grundrechten. Er schlägt sechs neue Grundrechte vor, um die europäische Verfassung zu erneuern. 

Für einzelne Länder sind die Herausforderungen zu gewaltig. Diese Grundrechte nehmen deshalb die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam in die Pflicht. Neue Rechte sind dazu besonders geeignet. Denn sie sind nicht nur Versprechen, sie sind auch Instrumente, um diese Versprechen durchzusetzen. Jeder Mensch kann sie einklagen. Menschen haben das überall getan, wo es möglich war. Sie erkämpften vor Gericht die Gleichbehandlung, verteidigten ihre Meinung, schützten Versammlungen, retteten Leben oder erstritten einen würdevollen Tod.

 

Wir brauchen weitere dieser mächtigen Instrumente, um unsere Zukunft in Europa zu gestalten. Wir brauchen sechs neue Grundrechte für Europa! Wenn Sie das ebenso sehen, bekennen Sie sich dazu mit Ihrer Unterschrift!

 

Mehr Info dazu: https://www.jeder-mensch.eu/informationen . Siehe auch bei „Wortwelten“.

 


April - August 2021


24 wahre Geschichten vom Tun und vom Lassen

Hrsg.: Karsten Hoffmann, Gitta Walchner, Lutz Dudek

 

Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis

Was passiert, wenn nicht finanzieller Erfolg, sondern der Beitrag zum Gemeinwohl zur Orientierung wirtschaftlichen Handelns wird? Eine andere Wirtschaft ist möglich. 24 Beispiele zeigen, wie die Werte der Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis gelebt werden und finanziell zum Erfolgsfaktor werden können.

 

Die Saat geht auf – Beispiel „Taifun Tofu“

Bild: © Taifun Tofu
Bild: © Taifun Tofu

1986 tat sich in einem Freiburger Keller Geheimnisvolles. Wolfgang Heck und Klaus Kempff versuchten, Tofu zu produzieren. Sie nahmen Sojabohnen, wässerten sie in einem großen Topf über Stunden, vermahlten sie mit Wasser, kochten das Gemisch im Dampfkochtopf auf und siebten die Faserstoffe heraus – so entstand eine eiweißreiche Flüssigkeit, die „Sojamilch”. Diese versetzten sie mit Gerinnungsmitteln, wodurch die „Sojamilch” ausflockte. Es entstand Molke und der hochwertige Tofubruch. Dieser wurde schließlich in feste Blöcke gepresst, und der Tofu war fertig. Als nach vielem Experimentieren so endlich – nach Wochen – alles passte, schafften sie es, zunächst vier Kilogramm Tofu in der Woche zu produzieren, den sie frisch auf dem Freiburger  Wochenmarkt verkauften.

 

Zwei junge Männer taten sich da zusammen, um ihr „eigenes Ding“ zu machen. Sie gründeten ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Tofu konzentriert, ein eiweißreiches Produkt aus der Sojabohne, das seit Jahrhunderten in Asien bekannt ist. Die Marke Taifun war geboren. Kern der Idee war und ist es, einen positiven Bei-trag zur Welternährung zu leisten, der schon ein Jahrzehnt früher durch den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums thematisiert wurde und heute aktueller ist denn je. Als  eiweißreiche Nahrung direkt aus der Sojapflanze leistet Tofu einen wichtigen Beitrag zur Welternährung. Viel aufwendiger ist es, Soja als Tierfutter zu verwenden, um Fleisch zu erzeugen. Der CO2-Fußabdruck ist bei der Fleischproduktion etwa zwanzigmal so hoch.(…)

 

Taifun-Tofu GmbH, rund 270 Mitarbeitende, 30 % Frauenanteil, 8 Auszubildende, 42 Jahre Altersdurchschnitt, 38,4 Mio. Euro Umsatz

 

Den aktuellen Taifun-Geschäftsführer Alfons Graf reizte neben der innovativen Produktidee das vom Unternehmensgründer Wolfgang Heck intendierte Anliegen, eine andere Art des Zusammenarbeitens umzusetzen. Die Maximierung des Umsatzes sollte nicht im Vordergrund stehen, vielmehr der Aufbau einer Arbeitskultur und Unternehmensorganisation, die auf die Mitarbeiter ausgerichtet sein sollte.(…)

 

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Geheimnisse der Hecken: Die Felsenbirne

Autor: Rudi Beiser

 

Wissenswertes aus der Botanik 

© Frank Hecker - mauritius images
© Frank Hecker - mauritius images

Die Gewöhnliche Felsenbirne (Amelanchier ovalis, Synonym Amelanchier rotundifolia) gehört zur großen Familie der Rosengewächse. Die Gattung Amelanchier umfasst 25 Arten, wovon die meisten in Nordamerika heimisch sind. Die Gewöhnliche Felsenbirne ist die einzige europäische Art. Ihr natürliches Verbreitungsgebiet ist vor allem das Gebirge, wo sie in den Alpen bis auf 2000 m aufsteigt. Vielleicht kommen daher die Volksnamen „Gamsbeere“ und „Edelweißstrauch“. Sie wächst bevorzugt an sonnigen Südhängen auf Kalkfelsen. Man findet sie auch in lichten Eichen- und Kiefernwäldern. Der Name „Quandelbeere“ kommt vermutlich daher, weil die Felsenbirne, wie auch der Quendel (Thymus pulegoides), gerne an sonnigen felsigen Standorten wächst.

 

Der dicht verzweigte dornenlose Strauch wird ca. 3 m hoch und kann 70–80 Jahre alt werden. Die Zweige haben eine rotbraune Rinde. Die Blätter sind eiförmig und am Blattrand fein gesägt und vor allem wenn sie jung sind an ihrer Blattunterseite filzig behaart. Im Herbst verfärben sich die Blätter orangerot. Von April bis Mai brechen die weißfilzigen Blütenknospen auf. Der traubenförmige Blütenstand besteht aus 4–10 schneeweißen sternförmigen Blüten. Die zwittrigen Einzelblüten haben 5 längliche Kronblätter, die weit auseinanderstehen und unterseits behaart sind. In der Blüte sitzen 20 Staubblätter und 5 nicht verwachsene Griffel.

 

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Corona-Krise lässt naturnahes Gärtnern durch die Decke gehen

© Bernd Stahlschmidt
© Bernd Stahlschmidt

Autoren: NABU Niedersachsen

 

NABU Niedersachsen sieht historisch starken Trend und gibt Tipps

Die nun bereits ein Jahr währende Corona-Krise mit den Lockdowns und Kontaktbeschränkungen hat zu einer „Renaissance des Gärtnerns“ geführt, so der NABU Niedersachsen: Noch nie erreichten den Landesverband und seine Einrichtungen so viele Anfragen zu naturnahem Gärtnern wie in den zurückliegenden zwölf Monaten, berichtet NABU-Mitarbeiter Rüdiger Wohlers, der dabei einen besonderen Trend vermelden kann: „Sehr viele Menschen möchten im Garten oder Kleingarten ‚Natur einladen‘, möchten Lebensräume schaffen, ganz gleich, ob sie ‚Gartenanfänger‘ sind, die gerade erst ein Stückchen Erde übernommen haben, oder ob sie bereits seit Jahrzehnten gärtnern“, so Wohlers. „Wohl noch nie war die Sehnsucht nach einem kleinen Gartenparadies mit Rotkehlchen, Amsel, Igel, Eichhörnchen, Schmetterling, Biene und Co. so groß wie in diesen Monaten und Tagen.“

 

Der NABU-Aktive erklärt: „Auffallend ist, dass beispielsweise viel mehr gezielte Nachfragen nach Möglichkeiten, etwas für Wildtiere im Garten ganz konkret tun zu können, sich auf speziellere Themen beziehen als bislang. Dies zeigt sich etwa darin, dass direkt nach Bauplänen für Nisthilfen gefragt wird, die jenseits der allgemein bekannten ‚Meisenkästen‘ liegen, etwa für Kleiber, Baumläufer, Hausrotschwanz, Bachstelze, Rotkehlchen und Co. Und auch Gebäudebrüter wie Mauersegler und Schwalben spielen eine viel größere Rolle als früher“, freut sich Rüdiger Wohlers, und fährt euphorisch fort: „Über allen anderen Themen thront jedoch als Nummer Eins das Insektensterben. Die Menschen haben verstanden, wie existentiell bedrohlich die Situation für die Insekten und damit für uns Menschen ist. Und: Sie sehnen sich nach der kleinen Serengeti hinter dem Gartentor, nach dem Maikäfer ihrer Kindheit, nach dem wohl auch in Folge des Klimawandels rar gewordenen Kleinen Fuchs, dem Tagpfauenauge, nach der Libelle am Teich. So entstehen in diesen Tagen viele kleine Insektenparadiese, überall in Niedersachsen – und das ist gut so! Und durch all das bekommen auch Kinder wieder mehr Bezug zur Natur – eine wichtige Grundlage, denn der Grundsatz ‚Ich kann nur schützen, was ich kenne‘ gilt uneingeschränkt.“

 

Rüdiger Wohlers sieht im weiteren „Ranking“ der beim NABU Niedersachsen am stärksten abgefragten Gartenthemen den Igel, dessen stetigen Bestandsrückgang über Jahrzehnte in ganz Europa die Menschen durchaus bemerken. Möglichkeiten, Eichhörnchen zu helfen, artgerechte Vogelfütterung, die Anlage von Bruthecken für Vögel und kleiner Teiche sind die Topthemen der Menschen, die sich an den NABU wenden. „Aus vielen Anfragen der Menschen gehen auch Empörung und Ablehnung von Schottergärten und anderer Naturzerstörung, etwa durch zu starke Verdichtungen und Überbauungen in Städten und Dörfern hervor – die Menschen haben wirklich ‚die Nase voll‘ von Beton- und Asphaltorgien und seelenlosem Abstandsgrün in einstigen Gartenoasen, die zu Parkplätzen mit Kirschlorbeer und Schotter verwüstet wurden. Hier ist der Beginn einer breiten Gegenbewegung quer durch das Land erkennbar“, meint der NABU-Aktive.

 

Was seit zwanzig Jahren in Großbritannien als „Gardening for wildlife“ längst zur Volksbewegung wurde, beginnt sich laut Wohlers hierzulande nun auch Bahn zu brechen. „Die Corona-Krise wirkt als Beschleuniger und Verstärker, wie sich auch an der Tatsache zeigt, dass heute Kleingärten stärker nachgefragt werden und viele Menschen sogar in Zeitungsannoncen Privatgrundstücke suchen, um sich einen Garten als kleine Rückzugsarche schaffen zu können“, ist Wohlers überzeugt, dass sich der Trend fortsetzen wird. „Der Siegeszug der naturnahen Gärten als Volksbewegung wird weitergehen. Wir sind Zeugen eines fundamentalen Wandels hin zur ‚Einladung an die Natur‘, die vielleicht als historisch bezeichnet werden kann“, ist sich Rüdiger Wohlers sicher.     

 

Das vom NABU Niedersachsen angebotene, sehr umfangreiche Info-Paket „Gartenarche“ mit seiner Bauplansammlung für Nisthilfen, dem Mauersegler-Baubuch und den Broschüren „Gartenlust“ sowie „Bienen, Wespen und Hornissen“ bietet eine Fülle an Hintergründen und praktischen Tipps. Es kann angefordert werden gegen Einsendung eines 10-Euro-Scheins beim NABU Niedersachsen, Stichwort „Gartenarche“, Alleestr. 36, 30167 Hannover.


Dezember 2020 - April 2021


Zukunft für alle

Autoren: Kai Kuhnhenn, Anne Pinnow, Matthias Schmelzer u.a.

Stell dir vor, es ist das Jahr 2048. Wie bewegst du dich fort? Was isst du? Wie verbringst du deine Zeit? Wie und was arbeitet du? Und über deine eigene Situation hinaus: Wie könnte diese Zukunft aussehen? Wie kann sie gerecht, ökologisch und machbar sein - für alle?

 

Beispiel Ernährung & Landwirtschaft

2048 gibt es: gutes Essen für alle, lokale Wertschöpfung, Kreislaufwirtschaft, eine Vielfalt an Produktionsbetrieben, mehrheitlich Höfe & Handwerk

 

2048 gibt es nicht mehr: Hunger, Lebensmittelspekulation, Dumpinglöhne, Privateigentum am Boden, industrielle Landwirtschaft

 

Gutes Essen für alle 

Die Effizienzlogik beim Essen ist überwunden: Frische Lebensmittel sowie Grundnahrungsmittel sind offen zugänglich, und alle nehmen sich Zeit fürs Essen. Lokale und oftmals von den Nutzenden selbst organisierte Versorgungsmöglichkeiten erleichtern diese Zugänge, z.B. durch Gemeinschaftsküchen in Häusern, die Lebensmittelpunkte in Quartieren und kollektive Versorgung in Häusern des Lernens und Betrieben. Alle Lebensmittel werden weiterverteilt und verwertet, nichts wird einfach weggeworfen. Der Proteinbedarf wird vor allem durch pflanzliches Eiweiß gedeckt. Der Konsum von Fleisch und Milchprodukten ist wesentlich gesunken, und die verbleibende Tierhaltung wird umwelt- und tierwohlorientiert – also extensiv statt intensiv – betrieben. Alle Teile von Tieren werden verwendet („nose to tail“), nichts wird verschwendet. Städte und Dörfer sind essbare Orte, denn überall werden Lebensmittel angebaut und geerntet. Wir haben verstanden, dass Essen und die Herstellung von Lebensmitteln unser Leben bereichern; wir wertschätzen und feiern das. 

 

Vielfältige Betriebsformen 

Heute gilt das Prinzip allseitiger Fürsorge und eine Vielfalt landwirtschaftlicher Betriebsformen. Der Schwerpunkt liegt auf kleinen Strukturen wie Höfen und Handwerk. Kleinbäuerliche Strukturen sind divers – neben klassischen Familienbetrieben finden wir eine Vielzahl von Wahlfamilien, Kollektiven und Genossenschaften, die landwirtschaftlich tätig sind.

Landwirtschaft ist agrarökologisch, das heißt ökologisch langfristig, und zumeist kleinbäuerlich ausgerichtet. Fossile oder chemische Dünger und Pestizide, die ökologische Kreisläufe zerstören, werden nicht mehr eingesetzt. Um die komplette Nahrung ökologisch herzustellen, müssen zwar viel mehr Menschen in der Landwirtschaft arbeiten als Anfang des 21. Jahrhunderts, diese haben dafür aber gute Arbeitsbedingungen, mehr Zeit für ihre Tätigkeiten und mehr Kontakt zu ihren Abnehmer*innen.

Die Produzent*innen organisieren sich weitgehend selbst. Kleinteilige Strukturen wie gemeinschaftliche Hofläden und Verteilorte, Wochenmärkte und lokale Verarbeitungsketten ermöglichen regionale Versorgungsstrukturen. Genossenschaftsläden in Hand der Mitarbeiter*innen und Konsument*innen mit regionalen Produkten haben profitorientierte Supermärkte ersetzt. Die Lebensmittelpunkte entscheiden selbst, mit welchen Produzent*innen sie für ihre Versorgung kooperieren. Eine radikale Umverteilung von Boden und Kapital, beschlossen vom globalen Ernährungsrat, hat zu einem neuen Prinzip der Allmende geführt:

Das Privateigentum an Boden ist abgeschafft. Dafür wurden in fast allen regionalen Räten Nutzungsregeln beschlossen, die auf einen langfristigen Erhalt der Bodenfruchtbarkeit ausgerichtet sind. Auch landwirtschaftliche Produktionsmittel sind meist lokal vergesellschaftet und global vernetzt; sie werden gemeinschaftlich hergestellt, genutzt, repariert und weiterentwickelt. Lokale Saatgutzentren sind für alle zugänglich und in Netzwerken miteinander verbunden. Die für die Produktion nötigen Rohstoffe werden regional hergestellt. Insgesamt haben alle die Möglichkeit, Land zu bewirtschaften.

 

Kreislaufwirtschaft und Bodenerhalt

Jedes Zwischenprodukt und jeder einstige Abfall wird als Ressource verstanden, womit eine echte Kreislaufwirtschaft ermöglicht wird. Das heißt, auch menschliche Fäkalien dürfen mit entsprechenden Sicherheitsauflagen kompostiert werden – die Mischkanalisation gehört der Vergangenheit an. Damit werden Nährstoffkreisläufe geschlossen und Produktstandards garantiert, so dass Kompost sicher und nährstoffreich ist. 

Der Wert des Bodens ist anerkannt: Der Erhalt und die Verbesserung seiner Fruchtbarkeit werden großgeschrieben. Die Felder sind kleiner und fast nie unbedeckt, wodurch Bodenerosion deutlich sinkt. Der Aufbau von Humus leistet einen wichtigen Beitrag für eine ertragreiche agrarökologische Landwirtschaft und für die Bindung von Treibhausgasen. Die Artenvielfalt zu bewahren und zu fördern ist zentral für jede landwirtschaftliche Tätigkeit. Das bedeutet unter anderem keine Pestizide und Herbizide mehr, dafür viele Bäume, Hecken und Nischen für Insekten und Wildtiere sowie die Zucht alter und samenfester Sorten, die Bäuer*innen selbst vermehren können. Konzepte wie Agroforstwirtschaft, Permakultur und Terra Preta sind weiterentwickelt worden und finden Anwendung.

 

Spezialisierte aber relokalisierte Verteilung

Im Bereich der Verteilung und des Vertriebs existiert weiterhin eine große Arbeitsteilung und Spezialisierung mit viel Knowhow. Gleichzeitig reisen Produkte zwischen Acker und Teller nicht mehr um den Globus, sondern werden weitgehend lokal verarbeitet und verteilt. Ein großer Teil der Lebensmittel wird direkt von Produzent*innen für angebundene Nachbarschaften produziert, ohne dass dafür Geld fließt. Überall gibt es kleine Bäckereien, Metzgereien, Mühlen, Molkereien und ähnliches. Das gut ausgewählte Sortiment in den genossenschaftlichen Läden ist qualitativ hochwertig und kommt möglichst aus einem Radius von 200 Kilometern. Der Handel mit Produkten aus dem Globalen Süden wie Kaffee, Tee und Südfrüchten ist soweit beschränkt, dass Ernährungssouveränität an den Anbauorten gewährleistet ist und erfolgt nur unter fairen Handelsbeziehungen. Kinder und Jugendliche lernen früh, mit Lebensmitteln zu arbeiten und erlangen damit einen selbstverständlichen Bezug dazu. Dadurch steigt auch ihr Interesse, in diesem Bereich tätig zu werden.

 

2020 - Was es schon gibt

 

Aktionsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL): kämpft für eine kleinbäuerliche biologische Landwirtschaft. ‣ abl-ev.de

Netzwerk Solidarische Landwirtschaft: Setzt sich für die Verbreitung dieser Form von Landwirtschaft ein. ‣ solidarische-landwirtschaft.org

Nyéléni Netzwerk für Ernährungssouveränität: Weltweites Netzwerk für Ernährungssouveränität, aufbauend auf der Nyéléni-Erklärung von 2007. ‣ nyeleni.de

Schwarzwurzel: Der kollektiv geführte Mitgliedsbioladen in Leipzig Lindenau ist ein Beispiel, wie gemeinschaftliche Läden aussehen können. ‣ schwarzwurzel.org

Slow Food Youth Netzwerk: Weltweites Netzwerk von jungen Menschen für gute, saubere und faire Lebensmittel. ‣ slowfoodyouth.de

Animal Rights Watch: Organisation, die sich für die Abschaffung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung von Tieren einsetzt und biovegane Konzepte entwickelt. ‣ ariwa.org/biovegan

 

Warum ist die Zukunft nicht vegan

2020 wurde an vielen Orten darüber gestritten, ob die Zukunft der Ernährung vegan, also frei von tierischen Produkten, ist oder nicht. Fridays for Future und führende Wissenschaftler*innen sprachen sich dafür aus, denn eine bio-vegane kleinbäuerliche Landwirtschaft wäre klimaschonend und gesund. Doch für den Großteil der Bevölkerung gehörte Fleisch 2020 noch zum Alltag. In unserer Zukunftswerkstatt zu Ernährung haben wir deutlich formuliert, dass es ein Ende der Massentierhaltung geben muss und Fleischproduktion – wenn überhaupt – nur noch mit Tierwohl möglich sein darf. Ob Tiere und Fleisch zum essen Teil einer nachhaltigen Landwirtschaft sind, war aber kontrovers. Von allen Seiten gibt es viele Argumente, wir greifen hier nur einige davon auf.

Ein Hauptargument für einen Ernährungskreislauf mit Tieren ist, dass dadurch Grasflächen auch für die menschliche Ernährung zugänglich sind. Eine nachhaltige Nutzung von Grünland trägt zum Erhalt biologischer Vielfalt bei und kühlt gleichzeitig den Planeten. Gras bedeckt weltweit rund 40% der bewachsenen Landoberfläche und speichert im Boden darunter fast 50 % mehr Kohlenstoff als Waldböden. Grasenden Wiederkäuern gelingt es, aus dem für Menschen unverdaulichen Gras wertvolle Fette und Proteine aufzubauen und gleichzeitig Mist zu produzieren, der als Dünger am Feld die Erträge sichert.

Das Problem ist: Die industrielle Landwirtschaft hat sich weit von diesem System entfernt. Mit hohem Aufwand an fossiler Energie wird synthetischer Dünger hergestellt, auf Ackerflächen ausgebracht und Getreide, Mais und Soja dann für die Fütterung eingesetzt. Dieses System ist mit hohem Tierleid und Umweltzerstörung verbunden. Daher ist wie oben betont klar: Eine Umorientierung in der Landwirtschaft und beim Fleischkonsum ist dringend nötig, da eine auf natürlichen Kreisläufen basierende agrarökologische Landwirtschaft eine wesentlich geringere Menge an Milch und Fleisch herstellen kann. Es müssen neue Methoden mit viehlosem Acker- und Gartenbau entwickelt werden. Aus einer globalen Perspektive sind Tiere jedoch ein wesentlicher Bestandteil eines nachhaltigen und ökologischen landwirtschaftlichen Kreislaufs. Wir versuchen daher, die grundsätzliche Umorientierung zu betonen, ohne jedoch nur auf Veganismus zu setzen.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des oekom Verlages aus „Zukunft für alle“ von Kai Kuhnhenn, Anne Pinnow, Matthias Schmelzer u.a..

Siehe auch unter „Wortwelten“ auf S. 69.


2020


August - Dezember 2020


Unsere Welt neu denken


© Gerd Altmann – pixabay.com
© Gerd Altmann – pixabay.com

Autorin: Maja Göpel

 

»Mitte des 20. Jahrhunderts erfahren die Menschen zum ersten Mal, wie ihr Planet aus dem All aussieht.  Vielleicht werden künftige Historiker einmal zu der Einsicht gelangen, daß dieser Anblick unser Bewußtsein grundlegender veränderte, als es selbst der – das menschliche Denken zutiefst erschütternden – kopernikanischen Revolution des 16. Jahrhunderts durch das Verbannen der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gelungen war.«

Aus dem »Brundtland-Bericht« der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen

 

London, Oktober 2019. In der morgendlichen Rushhour klettern zwei Männer auf das Dach einer U-Bahn, sodass diese den Bahnhof nicht mehr verlassen kann. Die Pendler*innen, die mit dem Zug zur Arbeit fahren wollen, stehen vor verschlossenen Waggons. Da die Aktion bald den ganzen Betrieb lahmlegt, wird es auf dem Bahnsteig enger und lauter. Während die Leute langsam verärgert realisieren, dass sie zu spät kommen werden, entrollen die Männer auf dem Zugdach ein Transparent, auf dem steht: »Business as usual = Death«, was so viel heißt wie: Weitermachen wie bisher bedeutet den Tod. Im Fall der Pendler*innen hätte weitermachen wie bisher bedeutet, zur Arbeit zu gehen. In ein Büro etwa oder in eine Fabrik. Sich an einen Computer zu setzen, in eine Konferenz, an eine Maschine, etwas herzustellen oder in Auftrag zu geben. Umsatz und Gewinn zu steigern, zum Wachstum beizutragen, den eigenen Job, die eigene Existenz zu sichern. Um Miete zu zahlen, Kredite zu bedienen und den Kindern und sich etwas kaufen zu können. Kurz: weiterzumachen mit dem Leben, wie Sie, wie wir alle es kennen und gewohnt sind. Was kann daran falsch, ja sogar tödlich sein?

 

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April - August 2020


Handeln: Nicht-Handeln?

Bild: © ejaugsburg auf www.pixabay.com
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Autor: Manfred Folkers

 

Sollten wir unsere Lust am Neuen einmal vergessen oder versuchen, gar ohne auskommen zu wollen, sind schnell jede Menge pfiffiger Werber und Vermarkter, Investoren und Politiker zur Stelle, um uns wieder daran zu erinnern. Um uns – in ganz einfachen Worten – dazu zu bringen, von dem Geld, das wir nicht haben, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, um bei Leuten, die uns eigentlich egal sind, Eindruck zu hinterlassen, der nicht anhält.

Tim Jackson

 

Bild Ein ethisch geprägter Umgang mit Sprache ist das Ergebnis einer geistigen Erneuerung, die angesichts der immensen Beharrungskraft von Gewohnheiten unumgänglich scheint, wenn ein Umschwung gelingen soll. Dennoch führt erst ein konkretes Handeln zu einer  veränderten Lebensgestaltung. Der perspektivisch zerstörerische Ist-Zustand unseres Handelns wurde bereits ausführlich beschrieben. Ihm ist nur dann auf heilsame Weise zu entkommen, wenn sich viele einzelne Menschen entschließen, ihr Alltagsverhalten zu überprüfen, es neu auszurichten und entsprechend zu verwirklichen. Diese Transformation hat individuell zu erfolgen, da sich jeder Mensch in einer einzigartigen Lebenssituation befindet.

So werden junge Menschen andere Optionen entwickeln als Alte, Reiche andere als Arme, Afrikaner andere als Asiatinnen, Männer andere als Frauen, Gesunde andere als Kranke. Aus diesem Grund ist es kaum möglich, konkrete Ratschläge zu geben, die von allen Menschen gleichermaßen umgesetzt werden können. Deshalb sind die wenigen nun folgenden Fragestellungen eher als Anregungen aufzufassen, mit deren Hilfe jeder und jede die passenden Schlussfolgerungen für das eigene Handeln ziehen kann. »Möchte ich ständig das Neueste besitzen (Auto, Handy, Mode …)? Wie viel Energie verbraucht meine Mobilität (Einkauf, Flüge, SUV, Hobbys)? Wie gehe ich mit Nahrungsmitteln um (im Restaurant, beim Kochen, im Geschäft) ? Ist meine Wohnung eigentlich zu groß ? Gehe ich achtsam mit Dingen um, die der Allgemeinheit gehören ? Ist mein Kontakt zur Nachbarschaft von gegenseitiger Hilfe geprägt ? Spreche ich mit anderen Menschen über mein und ihr Konsumverhalten, über Umweltkrisen, Genügsamkeit, Politik, Spiritualität etc. ?«

 

Viele selbstsüchtige und verschwenderische Gepflogenheiten werden beflügelt von einer Ideologie, die sich am besten mit dem Begriff »Hyper-Individualismus« überschreiben lässt. Das an sich selbstverständliche Ziel einer persönlichen Vervollkommnung hat sich – vor allem in begüterten Regionen – zu einer Orientierung verdreht, die den Fokus auf den materiellen Aspekt lenkt und irrigerweise davon ausgeht, dass sich Selbstverwirklichung, Glück und Harmonie auf diese Weise erhöhen lassen. Das Motto »Alle denken an sich – nur ich denke an mich !« soll dann nicht nur Vereinzelung und Isolation rechtfertigen. Mit dieser These kann auch verschleiert werden, dass ein derartiger Eigensinn, der manchmal sogar mit »Freiheit« verwechselt wird, nur auf Kosten anderer Menschen und der Mitwelt angestrebt werden kann.

Allerdings praktizieren bereits überall auf der Erde viele Menschen ein solch anderes  Handeln. In einigen Regionen können sie dabei auf noch vorhandene Traditionen zurückgreifen, etwa auf Selbstversorgung in der Landwirtschaft, Nachbarschaftshilfe, Straßengemeinschaften, Selbsthilfegruppen, Genossenschaften, ehrenamtliches Engagement, Gewöhnung an einen niedrigen ökologischen Fußabdruck, eine Wertschätzung der Stille etc.

In den von Industrialisierung, Konsumismus und Selbstbezogenheit beherrschten Regionen ist diese Suche ungleich schwieriger, da hier viele dieser Traditionen verloren gegangen sind. Angesichts wachsender Umwelt-, Ressourcen- und sozialer Probleme bemühen sich jedoch immer mehr Menschen um eine Lebenshaltung, aus der konkrete Projekte entstehen können, die sich als naturschonend und zukunftsfähig erweisen. Obwohl sie zum Teil ein Nischendasein führen, verdienen diese Experimente eigentlich mehr als eine kurze Erwähnung, denn sie ermöglichen einen Blick in die Nachwendezeit: Gemeinschafts-siedlungen; Tiny Houses; Sharing- und Reparaturgruppen; Mehrgenerationenhäuser; Ökodörfer; biologische und solidarische Landwirtschaft; regionale Versorgung; Gebrauchtwaren- und Verschenkmärkte; Lebensmitteltafeln; Transition-Town-Gruppen ; vegetarische und vegane Ernährung und vieles mehr. 

Hierzu gehören auch meditative, also eher direkt »auf den Geist gehende« Praktiken wie Yoga, Taijiquan, Qigong, Sitzmeditation. Viele weitere Initiativen, Projekte und Ideen sind in einigen der in den Literaturanregungen gelisteten Bücher enthalten.

 

Eine wichtige Motivation für diese Neuerungen ist der Versuch, hinsichtlich Besitz, Freiheit, Persönlichkeitsbildung und Zufriedenheit herauszufinden, was »genug« heißt oder ist. Für die Durchführung eines gesellschaftlichen Wandels ergibt sich daraus unter anderem die Konsequenz, einige Tätigkeiten einfach zu unterlassen. Diese Haltung führt keineswegs zum Stillstand, sondern zu einer Rückbesinnung auf das doppelte Mögen und einer Art absichtslosem, quasi nicht-eingreifendem Tun. Dieses »Handeln durch Nicht-Handeln« (in der chinesischen Kultur als »Wuwei« bezeichnet) enthält den Versuch, die Natur und die Zukunft ungestört wirken zu lassen und ihnen eine Stimme zu geben. Allein das Wissen, dass es für jeden Menschen in jedem Augenblick die Option »Nicht-Handeln« gibt, sollte nicht unterschätzt werden. Wenn Verlangen, Eile und Spontanität keine Rolle mehr spielen, zeigen sich mit dieser Einstellung eine Menge Lösungen wie von selbst. Besonders prägnante Hinweise haben bereits vor 25 Jahren Maria Mies und Vandana Shiva in ihrem Buch ökofeminismus formuliert:

 

Eine neue Definition von ›gutem Leben‹ wird nicht einfach Verzicht predigen, sondern die Werte hervorheben, die in unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft auf der Strecke bleiben, z. B. Kooperation statt Konkurrenz, (…), Selbstversorgung (self-sufficiency) anstatt Abhängigkeit von externen Märkten, Absage an Ausbeutung und Kolonisierung als Grundlage für eigene Vorteile, Gesellschaftlichkeit statt Verfolgung privater und egoistischer Einzelinteressen, Kreativität, Souveränität und Würde statt dauerndes ›Schielen nach oben‹, Befriedigung in der eigenen Arbeit statt imitativem und kompensatorischem Konsum und, statt eines stets steigenden quantitativem (?) Lebensstandards, Lebensfreude und Glück, die aus der Zusammenarbeit mit anderen und einer sinnvollen Tätigkeit entspringen.

 

Buddha hat in dieser Hinsicht einen »Mittleren Weg« propagiert: weder an Sinnesfreuden anhaften noch sich selbst quälen; weder Luxus noch Askese, sondern die Versöhnung von Gegensätzen und Gleichmut anstreben. Er traute jedem Menschen zu, Verantwortung für sich und das gesamte Leben um sich herum zu übernehmen. Hinsichtlich der geschilderten Probleme bedeutet dies: Alle haben sich an die eigene Nase zu fassen. Alle haben einen Anteil beizutragen. Jeder und jede ist wichtig. Weil jeder einzelne Mensch ein Teil der Probleme ist, ist er auch ein Teil der Lösungen.

Dabei darf allerdings nie vergessen werden, dass ein Kollaps droht, wenn nicht rechtzeitig eine Wende durchgeführt wird. Wenn sie zu spät erfolgt, wird sie der Menschheit ohne eigene Einflussmöglichkeiten verordnet. Noch ist es jedoch möglich, dass diese Veränderungen aus Motiven heraus entstehen, die eigene Überlegungen und Entscheidungen enthalten.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des oekom-Verlages aus „All you need is less“ von Manfred Folkers und Niko Paech, 2020.

Siehe auch bei „Wortwelten“.

 


Wildbienenhelfer - Die Gewöhnliche Löcherbiene Osmia (Heriades) truncorum

Foto: © Anja Eder
Foto: © Anja Eder

Flugzeit: Juni-Oktober / Vorkommen: häufig / Größe: 6-8 mm

Blütenbesuch: spezialisiert / Osmia-Arten 67: D: 64 / A: 55 / CH: 57

 

Erkennungsmerkmale:

Männchen: Körper schwarz / wenig weiß behaart / hintere Tergitränder mit weißen, feinen Endbinden / Bauchbürste rötlichgelb / Mandibeln (Kieferzange) breit und innen ausgebuchtet wie das Weibchen, aber nur sechs Hinter-leibsegmente / Hinterleib am Ende nach unten eingekrümmt / Gesicht weiß behaart

Lebensraum:

Gärten / Parks / Waldränder / Wälder

Lebensweise:

nistet in vorhandenen Hohlräumen / Käferfraßgänge in Totholz / hohle Stängel / Nisthilfen

Kuckucksbiene:

Düsterbiene Stelis breviuscula, Keulenwespe Sapygina decemguttata

Blütenvorliebe:

spezialisiert auf Korbblütler

Foto: © Anja Eder
Foto: © Anja Eder

Foto: © Anja Eder
Foto: © Anja Eder

Alant, Distel, Flockenblume, Goldrute, Greiskraut, Kamille, Margerite, Prachtscharte, Rainfarn, Ringelblume, Schafgarbe, Sonnenhut, Wasserdost, Wegwarte und viele mehr. Die Zahl der Korbblütler ist sehr groß, so auch das potenzielle Nahrungsangebot für die kleine Löcherbiene. Viele dieser Pflanzen sind ein- bis zweijährig, andere krautig ausdauernd.

 

 

Eine typische Körperbewegung des Weibchens ist das nervös wippende Auf- und Abbewegen des Hinterleibes. Dieses Wippen führt zu einer direkten Pollenaufnahme in die Bauchbürste. Das Männchen trägt ein hell behaartes Gesicht. Das Weibchen besitzt auffällig große Kieferzangen. Der vordere Rand des Clypeus (zwischen den beiden Zangen) ist  gerade abgeflacht.

Dieser Textauszug stammt aus dem wunderschönen Buch „Wildbienenhelfer“ von Anja Eder aus dem Tipp 4-Verlag (vielen Dank!), das wir schon vor einiger Zeit einmal vorgestellt hatten, das aber an Aktualität eher noch gewonnen hat. Das Wildbienenhelfer-Buch macht jeden - der will - zum Wildbienenhelfer. Es führt, nach Monaten gegliedert, durch die Wildbienensaison und zeigt anschaulich, welche Pflanzen Nahrung bieten und welche Wildbienen unterwegs sind. Jeder, der einen Garten, Balkon oder andere Pflanzmöglichkeiten hat, kann gezielt das Nahrungsangebot für die bedrohten Insekten verbessern. Das Buch schärft den Blick auf die teilweise recht unscheinbaren Wildbienenarten und auf unsere heimischen Blühpflanzen.


Der Igel: beliebt und missverstanden – Zeit, dies zu ändern!

© NABU Andreas-Bobanac
© NABU Andreas-Bobanac

NABU-Tipps zur Artenvielfalt zuhause

 

Wohl kaum ein anderes Wildtier genießt eine so große Beliebtheit bei den Menschen in Europa wie der Igel. In Märchen wird ihm die Rolle des Schlauen, der letzten Endes den Hochmütigen besiegt, gegeben. In netten Geschichten und Comics ist er der Humorvolle und Weise. Und viele lieben ihn heiß und innig, sind entsetzt, ihn als Straßenopfer zu finden – aber manche lieben ihn sogar „zu sehr“, sodass mitunter übertriebene Tierliebe in Vermenschlichung umschlägt und den Tieren schadet.

 

Dass Igelschutz am besten durch Lebensraumschutz bewirkt werden kann, zeigt der NABU Niedersachsen auf, und appelliert an Gartenbesitzer, „die Weichen zu stellen, damit dem Igel nachhaltig und mit Sachverstand geholfen werden kann“.

 

„Igel sind Wildtiere, das darf nie vergessen werden. Und sie stehen unter gesetzlichem Schutz“, sagt Rüdiger Wohlers vom NABU. Er hat in mehr als einem Vierteljahrhundert erlebt, dass der die Menschen anrührende Igel oft völlig missverstanden und sogar zum „Haustier“ erklärt wird – oftmals das Todesurteil für das Tier.

 

„Es gibt leider immer noch eine gewisse Einsammelmentalität, gerade im Herbst“, berichtet Wohlers. Doch der reinen „Einsammelei“ muss Einhalt geboten werden – übrigens auch, weil sie gegen Naturschutzrecht verstößt und in Tierquälerei übergehen kann. „Immer wieder erhielten wir Anrufe von gut meinenden Tierfreunden, die vermeintlich hilfsbedürftige Igel allerorten einsammelten oder dieses wollten – was wir zu verhindern wussten –, weil sie Angst hatten, die Tiere könnten den Winter nicht überstehen. Dies ist aber nur bei stark geschwächten oder stark untergewichtigen Tieren der Fall. Auf jeden Fall sollte dann immer ein Tierarzt das letzte Wort haben. Und es sollte eine anerkannte Igelstation einbezogen werden“, mahnt Rüdiger Wohlers. „Zahlreiche Beispiele aus der Praxis zeugen oft von Unverständnis oder sogar von Aggressivität, wenn die Tiere zu Unrecht aufgelesen worden sind und wir als NABU auf das Fehlverhalten hinweisen“, zeigt sich Wohlers bekümmert.

 

„Also: Igel sind Wildtiere!“, unterstreicht der NABU-Aktive. „Igel haben ein Nahrungsspektrum, das sich so gut wie ausschließlich aus tierischem Eiweiß erschließt: Auf ihrem Speiseplan stehen Schnecken in großer Zahl, Regenwürmer, Käfer, Raupen, Ameisen, anderes Kleingetier, aber auch schon mal ein Ei einer bodenbrütenden Vogelart oder Aas, da sind sie nicht wählerisch. Das bedeutet auch, dass nur ein naturnaher Garten ein echter ‚Igelgarten‘ sein kann“, sagt Wohlers: „Wer einen bürstenkurzen Rasen, viele versiegelte Flächen und immergrüne Exoten ohne ökologischen Wert als Hauptbestandteile seines Gartens hat, muss sich nicht wundern, wenn der Igel einen großen Bogen um ihn macht!“

 

Im Garten sollte Vielfalt angesagt sein: Dazu gehören heimische Sträucher, deren Laub auch im Herbst und Winter liegen bleiben darf, sodass sich darunter Insekten und andere Lebewesen aufhalten können, und das der Igel im Winter für sein Schlafnest nutzen kann. Auch Stauden, vielleicht eine „wilde Ecke“ aus Holz, Ästen und Laub, eine kleine Wasserstelle und auch eine Blühwiese sind nützlich – Hauptsache, es werden heimische Pflanzen eingebracht und auch die Nahrungstiere des Igels finden einen Lebensraum, der dann automatisch auch vielen anderen Tieren eine kleine „Arche Noah“ bietet, also beispielsweise Vögeln, Insekten und weiteren Kleinsäugern.

 

Um dem Igel über den Winter zu helfen – der Igel ist ein Säugetier, das in Winterschlaf verfällt, und zwar meist bis in den März oder April, in sehr kalten Frühjahren auch mitunter bis in den Mai hinein –, kann ihm leicht geholfen werden: Sehr gut bewährt hat sich der Bau einer so genannten „Igelburg“, die mit etwas Geschick aus Holz gebaut werden kann und dann mit Geäst und Laub überdeckt wird. Darin kann das Igelweibchen Im Sommer auch ihre Jungtiere zur Welt bringen. „Wichtig ist es, dafür einen trockenen Standort im Garten zu wählen, möglichst unter Sträuchern, nie ganz frei, und niemals in einer Senke, in der sich Regenwasser sammeln kann“, erklärt Rüdiger Wohlers. Gut geeignete Igelburgen gibt es für alle, die diese nicht selbst basteln wollen, auch im Fachhandel; besonders gut geeignet und lange haltbar sind jene aus witterungsbeständigem Holzbeton. Die Igel tragen als Material gern selbst trockene Gräser ein.

 

„In den letzten Jahren werden immer später Jungigelwürfe festgestellt, oft bis in den Frühherbst hinein“, berichtet Wohlers, „sodass diese auch wesentlich länger zu sehen sind, oft bis in den November, und sich dann noch Fettreserven für den Winter anfressen müssen. Diesen Tieren kann durch artgerechte Zufütterung geholfen werden – aber es darf niemals Milch gereicht werden, da diese aufgrund der Laktoseunverträglichkeit für den Igel tödlich wirken kann!“

 

Igel haben sich immer mehr in den Siedlungsraum des Menschen, in Dörfer und Städte aufgemacht. „Eine Folge der großenteils katastrophalen Ausräumung unserer Agrarlandschaft“, sagt Rüdiger Wohlers, „in der Feldgehölze, Brachen und artenreiche Wegränder fehlen, der Acker bis zum letzten Zentimeter ausgenutzt wird und es weder Nahrung noch Unterschlupf für Tiere gibt“, erläutert der Naturschützer. Deshalb komme gerade den Ortsrändern und dem großen Potential der Gärten eine wachsende Rolle zu, was den Schutz des Igels betrifft, denn in weiten Teilen Europas gehen seine Bestände seit Jahren drastisch zurück: „Aus dem Allerweltstier wird eine Seltenheit!“, mahnt Wohlers, „in einigen Bundesländern hat er es bereits in die Vorwarnliste der gefährdeten Arten geschafft – ein traurige Entwicklung, die wir durch unseren Einsatz für Igel im naturnahen Garten zwar nicht beenden, aber zumindest ein Stück weit abfedern können!“

 

Der NABU-Aktive macht zudem auf weitere Gefahren für den Igel aufmerksam: „Neben dem Straßenverkehr, in dem viele tausend Igel ihr Leben lassen, können es auch Gefahrenquellen am Haus und im Garten sein. Dazu zählen etwa der steilkantige Teich, aus dem es keinen Ausstieg gibt und in dem der Igel, aber auch andere Tiere wie Spitzmäuse ertrinken können, der offene Lüftungs- oder Kellerschacht, die offene Baugrube oder der Gullyschacht. Hier sollte Abhilfe geschaffen und mit Sorgfalt gearbeitet werden.“ Auch zu engmaschige Zäune können ihm zum Verhängnis werden, da sie Igel, wenn sie bis in den Boden abgesenkt sind, den Zugang zu Gärten versperren – verschenktes Potential eines kleinen „Igelparadieses“!

Der NABU hofft, dass der Liebe zum Igel möglichst viele Taten folgen. „Wir können im Garten und Kleingarten einiges in die Hand nehmen!“, sagt Rüdiger Wohlers, „aber auch in Schulgärten, Grünanlagen und Gewerbeflächen – wir müssen es nur wollen! Auch dort lässt sich Artenvielfalt einladen, für Igel und Co.!“

 

Für alle, die sich für den Igel einsetzen und mehr über seine spannende Lebensweise erfahren wollen, hat der NABU ein kleines Infopaket zusammengestellt, in dem auch Baupläne für eine „Igelburg“ und Pflanztipps für den naturnahen Garten enthalten sind. Es kann angefordert werden gegen Einsendung von 5 Euro beim NABU Niedersachsen, Stichwort „Igel“, Alleestr. 36, 30167 Hannover.

www.NABU-niedersachsen.de