Bewusstes Leben Dezember 2023 - April 2024


Lieben ohne Leiden

© lambhappiness auf pixabay.com
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Autorin: Birgit Haus

 

Lieben ohne Leiden wollen wir alle. Vielleicht gibt es heute deshalb so viele Singlehaushalte wie nie zuvor. Aber Vermeidung von Beziehung ist nicht die Lösung. Wir Menschen sind Beziehungswesen. Wir brauchen Verbindung und suchen auch immer bewusst oder unbewusst danach. Deshalb soll dir dieses Buch helfen, einen Weg zu finden, wie es endlich gelingen kann, in einer Beziehung zu lieben, ohne zu leiden.

Lieben ohne Leiden ist der Übergang von der Dunkelheit zum Licht. Es ist ein Weg, für den wir uns entscheiden können. Solange wir in der Liebe, in unseren Partnerschaften leiden, haben wir kein Bewusstsein über das, was zwischen uns Liebenden passiert. Wir haben unbewusste Erwartungen an den anderen. Der andere soll uns geben, was wir brauchen. Aber wir sagen es ihm oder ihr nicht, weil wir es ihm schon so oft gesagt haben. Oder wir wissen selbst nicht so genau, was wir wirklich brauchen, gehen aber davon aus, dass unser Gegenüber es spüren müsste.

Liebe wird daher oft missverstanden als ein Ort der Erwartungserfüllung. Das hat jedoch nichts mit echter Liebe zu tun. Echte Liebe ist eine sehende Liebe. Ich suche tastend nach dem anderen, möchte ergründen, wer er oder sie wirklich ist. Sich gegenseitig zu erkennen, knüpft ein Band der Liebe, das nicht austauschbar ist. 

Um heil zu werden, müssen wir zu den Wurzeln unserer Biografie hinabsteigen in unsere Kindheit. Dort haben wir die Muster der Liebe verinnerlicht, mit denen wir später verzweifelt versuchen, glückliche Liebesbeziehungen zu gestalten. Aber wie soll das gehen, wenn  meine Kindheit möglicherweise geprägt war von Nicht-gesehen-Werden? Wie soll das gehen, wenn in meiner Familie nicht über Gefühle gesprochen wurde? Wenn die Eltern sich immer nur gestritten haben? Wenn der Vater eine Geliebte hatte und die Mutter ihren Kummer in Alkohol ertränkt hat? Wenn der Vater gestorben ist und die Mutter in eine Depression verfiel? Wenn die Mutter davongelaufen ist, weil der Vater nach der Arbeit immer nur stumpf mit der Bierflasche vor dem Fernseher saß? Oder wenn sie nach der Scheidung die meiste Zeit weg war, um Geld zu verdienen und ich allein zu Hause zurechtkommen musste, ohne dass sich jemand um mich kümmerte? Oder wenn ich Gewalt erlebt habe, sei es, dass sich die Eltern geschlagen haben, oder sei es, dass wir Kinder geschlagen wurden?

 

Die Liste der möglichen Entbehrungen und schmerzlichen Erfahrungen in unserer Kindheit ließe sich unendlich fortsetzen. Im Erwachsenenalter haben wir diese Erlebnisse sehr oft in der Tiefe unseres Gedächtnisses vergraben. Ohne es zu merken, geht aber eine unbewusst steuernde Macht davon aus. Denn alles, was wir erlebt haben, hat in unserem Gehirn Spuren in Form von Verschaltungen von Nervenzellen hinterlassen. Das führt dazu, dass wir als Erwachsene unser Leben wie durch eine Brille betrachten. Und solange uns das nicht bewusst ist, wird das Gehirn Situationen durch diesen Filter einschätzen und uns sagen, ob wir in Gefahr oder in Sicherheit sind. Das kann zu vielen »Fehlinterpretationen « von Realitäten führen und dazu, dass wir im erwachsenen Leben in bestimmten Situationen Gefahren sehen, die gar nicht mehr da sind. Nur durch die alte Brille der Kindheit erscheinen sie uns gefährlich, obwohl sie das nicht sind.

In Partnerschaften kommt es dadurch häufig zu sogenannten unbewussten Reinszenierungen unserer Kindheit. Der Partner oder die Partnerin sieht dann auf einmal durch die Brille unserer Kindheit aus wie unsere Mutter oder unser Vater. Und wir selbst verhalten uns dann wie das Kind von einst. 

Erst in unseren Liebesbeziehungen wachen wir auf. Die körperliche Intimität zwischen zwei Menschen scheint ein wichtiger Trigger zu sein für unsere zartesten Gefühle. So wie das Kind an der Brust beim Stillen mit der Mutter in einer nährenden Einheit verschmilzt, suchen wir oft unbewusst in der Sexualität diese stärkende Quelle beim Partner oder der Partnerin.

Da wir als Erwachsene aber nicht nur nach symbiotischer Einheit suchen, sondern auch Einzelwesen sind, die nach Autonomie streben, braucht es ein Bewusstsein, das lernt, mit diesem Gegensatz umzugehen. Und das gilt es nicht nur bei uns selbst zu erkennen, sondern auch dem Partner zuzugestehen.

Was macht den Unterschied zwischen leidvollem Lieben und Lieben ohne Leiden? Lieben ohne Leiden, kurz LoL, ist die Frucht eines Reifeprozesses zweier Menschen, die bereit sind, miteinander zu wachsen. Wenn wir die Partnerschaft als einen Selbstbedienungsladen verstehen, in dem wir uns nehmen können, was wir wollen, machen wir den anderen zu einem Objekt. Das kann eine Zeit lang gut gehen, solange das »Objekt schläft«. In dem Moment, in dem es erwacht, wird es sich wehren. Dann fangen Konflikte an. Um diese klären zu können, braucht es wiederum die Liebe. Verstehen wir die Liebe als das wechselseitige Bemühen, den anderen zu erkennen, was er oder sie wirklich ist, werden wir miteinander wachsen. Und solange wir miteinander wachsen, macht eine Beziehung Sinn. Dann gibt es auf beiden Seiten Entwicklung. Und da, wo Entwicklung ist, ist auch Gesundheit. Wenn wir nicht mehr miteinander wachsen können, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir uns besser trennen. Aber eine Trennung macht auch nur dann Sinn, wenn wir sie aus einer tiefen Ruhe und Klarheit vollziehen und sie eindeutig mit einem Gefühl der Befreiung einhergeht. Dann besitzen wir auch die Kraft, unser Leben allein zu meistern, und fühlen uns allein vollständiger als zu zweit. 

Ansonsten bleiben wir besser in der Beziehung. Denn in einer schwierigen Beziehung sind wir herausgefordert, uns mit unseren unterschiedlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Dadurch können wir zu einem selbstbestimmteren Individuum heranwachsen. Außerdem lernen wir so, Individualität und Beziehung besser miteinander zu vereinen. Denn biologisch sind wir dazu angelegt, uns zu verbinden. Gelingende Partnerschaft ist in meinem  Verständnis ein gesundes Wechselspiel zwischen Autonomie und Bezogenheit. Wenn sich beide Partner als Individuen innerhalb der Partnerschaft und im Leben als Ganzem hervorbringen als das, was sie wirklich sind, steht dem Gelingen der Liebe nichts

mehr im Weg.

Solange wir aber den anderen für unser Glück und unsere Entfaltung verantwortlich machen, indem wir Erwartungen von Zuwendung, Gesehenwerden, Förderung oder Ähnlichem auf ihn projizieren, nehmen wir eine kindliche Position ein, die nur dazu geeignet ist, vertraute  Muster der Kindheit zu wiederholen.

 

Warum leiden wir?

Wer liebt, fühlt sich meist auch geliebt und lebt in der Fülle. Wer sich nicht geliebt fühlt, lebt im Mangel und erfährt in der Regel sehr viel Leid in der Liebe. Wie unsere Startbedingungen in unserem Leben sind, ist von maßgeblicher Bedeutung für die Entwicklung unserer Liebesbeziehungen. Daher haben wir zunächst im Leben keine freie Wahl, zu lieben oder nicht zu lieben.

Keine Spezies braucht im Leben so lange wie der Mensch, um ein eigenständiges Leben führen zu können. Der vielseitige Schweizer Forscher Adolf Portmann spricht von einer »physiologischen Frühgeburt« unserer Gattung. Zum Zeitpunkt unserer Geburt ist unser Gehirn in seiner Entwicklung noch nicht vollendet. Unser Magen-Darm-Trakt muss erst lernen, Nahrung zu verdauen. Wir können uns noch nicht so verständigen, dass wir sicher sein können, dass verstanden wird, was wir brauchen. Und von der emotionalen Zuwendung unserer Mutter (und anderen Bezugspersonen) sind wir komplett abhängig. Ohne ihre körperliche Nähe, Zärtlichkeit, Wärme und Geborgenheit würden wir vereinsamen und seelisch verhungern. Unsere größte Angst ist es, zu lange von ihr getrennt zu werden, was wir allerdings noch nicht mitteilen können. Im Extremfall sind wir sogar gefährdet zu sterben, wie es Versuche in der Vergangenheit gezeigt haben. In einer milderen Variante der Anpassung an den Mangel geraten wir in eine Art Überlebensmodus, der unser Gehirn darauf einstimmt, alles zu tun, um unser Überleben zu sichern. Der stärkste Motor darin ist unsere Verlustangst. Das ist deshalb wichtig zu wissen, weil Sigmund Freud schon erkannte, dass hinter vielen psychischen und physischen Symptomen Angst steckt. Daher ist die Heilung unserer Liebeswunden immer gleichzeitig auch die beste Gesundheitsprophylaxe. Dadurch entsteht im Inneren ein wachsendes Gefühl von Sicherheit, was das Fließgleichgewicht unserer selbstregulativen Prozesse im Körper steuert.

 

Permanente Angst hingegen versetzt das Gehirn in einen Alarmzustand, der uns durch die kontinuierliche Bereitstellung von Stresshormonen in einen »Überlebensmodus« versetzt. Durch die Überforderung unseres Nervensystems mit der Überdosierung von Stresshormonen entstehen auf Dauer zunächst Symptome wie ständige Alarmbereitschaft, Schreckhaftigkeit, Dissoziation, Unerreichbarkeit, Schlafstörungen, Depression, Scham- und Schuldgefühle und vieles andere mehr. Auf lange Sicht können aus diesen Symptomen sogar verschiedenste Autoimmunerkrankungen entstehen.

Allerdings ist das mit der Heilung der Liebeswunden oft gar nicht so einfach, weil wir uns ihrer häufig nicht bewusst sind. Ich habe schon viele Menschen in der Therapie erlebt, die sagten, dass sie wirklich eine schöne Kindheit gehabt hätten. Nur in der Partnerschaft hätten sie Probleme. Dabei werden viele Trennungssituationen zwischen Mutter und Kind unterschätzt, die zu einem elementaren Vertrauensverlust in Beziehungen generell führen. Das führt zu einer erhöhten Skepsis gegenüber anderen Menschen, was eine chronische Belastung in der Beziehung darstellt.

Wir suchen die Ursachen für unseren Liebesschmerz viel wahrscheinlicher in den scheinbaren Defiziten des anderen als bei uns selbst. Wenn nur der andere sich verändern würde, glauben wir, wäre das Problem überwunden.

Deshalb suchen viele Menschen unbewusst in ihren Liebesbeziehungen den Halt, die Versorgung, den Körperkontakt, die Geborgenheit, die Zuwendung, das Verständnis und all das, was ihnen am Anfang des Lebens gefehlt hat. Unterschwellig haben wir die Erwartung, dass uns der andere das geben müsste, was wir brauchen, wenn er oder sie uns liebt. Aber woher soll der andere wissen, was wir brauchen? Und was braucht der andere, um sich von uns geliebt zu fühlen? Aus unterschiedlichen wechselseitigen Erwartungen einerseits und realen Erfahrungen mit der Liebe andererseits entstehen enorm viele Verstrickungen in unseren Partnerschaften.

Daher will ich dich mit der Lektüre meines Buches dabei unterstützen, dir deiner eigenen verborgenen »Strickmuster der Liebe« bewusst zu werden. Denn erst wenn wir uns bewusst werden, wie wir einst geliebt oder vernachlässigt wurden und wie wir uns heute infolgedessen selbst lieben oder nicht lieben, können wir lernen, mit uns selbst und unseren Liebsten anders und vor allem liebevoller umzugehen.

 

Birgit Haus

Lieben ohne Leiden

 

Goldegg Verlag

200 S., 24 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 55.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Goldegg Verlages.


Mit dir, ohne dich

© ekrem auf pixabay.com
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Autor: Ulrich Schaffer

 

Gedichte über Demenz, die Demenz des Partners und über den Umgang mit diesem Zustand, diesem Erlebnis? Ist das angebracht? Ich habe es mir überlegt und mir dann gesagt, dass meine Gedichte schon seit Jahrzehnten von dem handeln, was mich in meinem Leben betrifft, was mich also besonders angeht. Die Demenz meiner Frau ging mir sehr nahe und ich bin oft 24 Stunden am Tag damit in Berührung gekommen. Darum sah ich keinen Grund, nicht auch Gedichte über ihre Demenz zu schreiben. Es war nicht alles in meinem Leben, aber sehr viel. Viele meiner Entscheidungen mussten den Zustand meiner Frau berücksichtigen. Ich konnte nicht einfach das Haus verlassen, nicht tun, was ich gerne wollte, ohne zumindest dafür zu sorgen, dass zuhause alles gut weitergeht.

Aber ich war mit unserem Schicksal nicht allein. Unsere Freunde in Vancouver und hier in Gibsons an der Sunshine Coast von British Columbia in Kanada haben uns begleitet. Auch unsere Freunde in Europa waren für uns da und wir haben in regem Kontakt mit ihnen gelebt, auch per Videokonferenz und Zoom. Diese Kontakte hielten die Welt auch für Waltraud offen. Sie war nicht eingeschlossen in ihrem Zustand.

Ich habe versucht, das Thema der Demenz auf mehreren Ebenen zu behandeln. Ich schreibe seit 60 Jahren Gedichte. Von allen literarischen Formen ist die Lyrik meine liebste. Damit wollte ich die Enge der Demenz aufbrechen und sie in einen größeren Raum stellen. Waltraud hatte Lewy-Body-Demenz, die durch hörbare und sichtbare Halluzinationen gekennzeichnet ist. So weckte sie mich eines Nachts, um mir zu sagen, dass jemand gerade die Hausklingel gedrückt habe. Es war drei Uhr nachts. Ich ging an die Tür, aber niemand war da. In der nächsten Nacht wiederholte es sich. In der dritten Nacht bin ich dann nicht mehr aufgestanden und Waltraud konnte das akzeptieren. Eine Woche später hörte ich die Klingel ebenfalls nachts und Waltraud hatte sie nicht gehört. Da haben wir uns dann schon gefragt, ob uns jemand etwas vermitteln will. Wir gehen davon aus, dass es neben unserer Dimension, in der wir alle mehr oder minder zuhause sind, vielleicht noch andere gibt, die uns nicht zugänglich sind oder die nur für gewisse hellhörige oder hellsichtige Menschen zu betreten sind. Diesen Dimensionen, wenn es sie gibt, wollten wir uns nicht verschließen. Das hat dazu geführt, dass wir Waltrauds Zustand nicht einfach nur als Krankheit abgetan haben, gegen die man nichts tun kann und die man nur erleiden muss, sondern wir haben sie zeitweilig als Portal zu einer anderen Wirklichkeit gesehen, auch zu einer anderen Wirklichkeit in uns – eine Tür zu einer größeren Reife.

Zu dieser Sicht kommt meine Sicht als Lyriker hinzu. Es hat mich ein Leben lang interessiert, das Mystische, Mysteriöse, Unverständliche, Ahnbare in meinen Gedichten anzusprechen. Das, was ich nicht verstehe und zum Teil auch nicht artikulieren kann, hat mich immer angezogen. Aus der Kombination dieser beiden Haltungen ist ein Teil der Gedichte dieses Bandes entstanden. Dazu gibt es noch Texte, die auch das Alltägliche ansprechen, um einen Rahmen herzustellen. Die Prosatexte dieses Bandes sind alle in der dritten Person geschrieben. Es gibt mir die Möglichkeit, Abstand von mir zu gewinnen. Ich weiß, dass ich manches in der Demenz nicht persönlich nehmen und auslegen darf, sondern die Demenz als Hintergrund nehmen muss. Darum ist es mir leichter gefallen, in der dritten Person zu schreiben. Ich konnte mich aus dem Abstand beobachten. Es mag wie ein Kunstgriff wirken, ist aber mehr. Ich brauche den Abstand, um in meine Nähe zu kommen. Mich als er und Waltraud als sie anzusprechen, hilft mir, manches klarer zu sehen. Vielleicht ist es hier und da auch ein wenig Scham, dass ich so fühle, wie ich es beschreibe.

Ich wünsche dem Buch, dass es Menschen dort abholt, wo sie mit ihren Fragen zur Demenz stehen. Vielleicht sind Gedichte für manche ungewohnt und schwer, aber ich hoffe, dass auch sie den Gedichten eine Chance geben, zu ihnen zu sprechen. Menschen mit Demenz sind Menschen wie wir alle. Es ist gut, wenn sie auf die eine oder andere Weise unter uns bleiben dürfen. Diese Texte sollen dazu beitragen.

Zu den Fotos: Ich wollte zu den Texten auch ein Gesicht stellen. So habe ich Waltraud im Lauf der Zeit nach ihrer Diagnose immer wieder fotografiert. Ich habe sorgfältig ausgesucht, welche Aufnahmen mir passend schienen. Ich wollte nicht ihre besonderen Tiefpunkte, die es auch gab, in meinen Bildern darstellen, sondern die alltägliche Menschlichkeit abbilden. Ich wollte die Frau und Partnerin, die sie trotz der Demenz geblieben ist, erfassen.

Es gibt auch Gedichte, die sich nicht direkt mit Waltrauds Demenz und meiner Reaktion auf sie befassen, die aber in dem gleichen Zeitrahmen entstanden sind und sich mit Themen beschäftigen, die besonders aus der Demenz hervorgegangen sind. So habe ich mich vermehrt mit dem Tod beschäftigt, mit Fragen der Not und des Leids, mit Sinnfragen jeder Art. Auch da wollte ich ausbrechen aus der Enge, die die Demenz leicht aufdrängen kann. Ich wollte trotz der Demenz weit denken.

Ich hoffe, dass ich in diesem Buch nie so klinge, als wollte ich die Demenz verklären oder schönreden. Dafür ist sie zu hart. Sie kann das Kostbarste zersetzen, das Zarteste brutalisieren, das Erhabenste erniedrigen. Sie kann gemein sein und einem Fluch ähneln. Nimmt man sie ernst, muss man auch diese Seiten an ihr ernst nehmen. Aber sie trägt auch Geschenke in sich, die man erst nicht vermutet. Sie hat verwandelnde Kraft, besonders für den, der einen Menschen mit Demenz betreut. Auf diese Seite des Zustands wollte ich mich konzentrieren.

Die Grafiken waren ein Nachgedanke. Viele meiner Bücher sind illustriert. Ich habe Tuschezeichnungen gewählt. Sie sind mit Pinseln gemacht, dann gescannt und bearbeitet. Ihr Schwarz-weiß-Charakter schien mir zu diesen Themen zu passen. Demenz ist nicht schwarz-weiß, aber sie kann so erlebt werden. Ihre Härte ist fast immer zu spüren, die Endgültigkeit dieser Krankheit – der Kranke gesundet nicht. Dieser langsame Gang in den Tod kann erschütternd sein, für den Kranken, aber auch für den Betreuer.

Ich habe ganz bewusst den Ton in diesem Buch in einer schnellen Abfolge verändert. Es geht von nachdenklich zu schwer, zu glücklich, sogar zu leicht, manchmal auf derselben Doppelseite. So habe ich auch in der Form das Leben mit der Demenz nachgeahmt. Es ist bewegt, heimsuchend, manchmal anstrengend und sehr wechselhaft. Manche Gedanken wiederholen sich. Ich wollte sie bewusst im Buch lassen, weil sie sich auch in meinem Leben wiederholten und mich besonders beschäftigen. 

Waltraud und ich waren, während ich dies schrieb, 54, 55 und 56 Jahre verheiratet. Ich habe das Buch darum mit Gedichten und Bildern aus der Zeit begonnen, als Demenz für uns kein direktes Thema war. Ich wollte Waltraud und uns beide gerne so darstellen, wie wir einmal waren. (…) Diese habe ich so ausgewählt, dass man ihnen anspüren kann, dass sie eine Frau war, die sich mit der Welt hinter der Welt beschäftigte. Man könnte fast sagen, dass diese kleine Auswahl an Texten schon eine Art innerer Vorbereitung war für das, was dann über 20 Jahre später als große Herausforderung an sie herantrat.

(…) Dieses Buch ist auch als „Blätterbuch“ gedacht. Es muss nicht systematisch von Anfang bis Ende gelesen werden. Man kann darin blättern und sich von dem ansprechen lassen,  was man gerade aufschlägt.

 

Demenz

Die Herausforderung ist, diese Krankheit immer besser

und umfassender zu verstehen,

keine vereinfachenden Erklärungen abzugeben,

die Wucht des komplizierten Lebens zu ertragen,

mehr als sie nur zu ertragen, sie zu gestalten,

ohne in ein System zu fliehen.

Es ist schwer, die Frage nach dem Sinn zu beantworten.

Sterben wäre einfacher, sagst du, und doch leben wir weiter,

aber nicht in der Breite und Buntheit,

die wir gewohnt sind und mit Gefühlen für das Leben,

die wir beide kennen und immer noch lieben.

Die Würde erhalten, auch mit schrumpfenden Fähigkeiten,

die Achtsamkeit noch als Schatz empfinden,

auch wenn vieles nicht mehr geht

und ein Schatten von früher ist.

Und dann üben, immer wieder üben,

das Leben, wie wir es gelebt und zelebriert haben,

mit unserer Liebe zur natürlichen Welt,

zu Menschen und Ideen, zu Musik und Literatur, zu Filmen,

zu den geographischen Landschaften unseres Lebens,

dieses Leben loszulassen, ohne zu versuchen,

es zurückzuholen, nicht mehr zu denken, wie es war,

wie es sein sollte, wie es sein könnte,

die beseelten Vorstellungen für das Alter loszulassen,

und anstatt dessen Meisterin und Meister

der Gelassenheit zu werden, ohne Opfer zu sein,

ohne unterzugehen in der täglichen Pflicht

mit ihrer Ungeduld und ihren Missverständnissen,

vielleicht sogar mit dem zeitweiligen Verlust der Mitte –

das ist die höchste der Hohen Künste.

 

Ulrich Schaffer wanderte vor 70 Jahren als Zehnjähriger mit seinen Eltern nach Kanada aus. Seit 25 Jahren lebt er in Gibsons an der Pazifikküste, das nur über eine Fähre zu erreichen ist. Als Schriftsteller und Fotograf widmet er sich zuhause und auf Reisen den großen Themen Spiritualität (Leben), Beziehung (Liebe) und Schönheit (Schöpfung). 

www.ulrich-schaffer.com

 

Ulrich Schaffer

„Mit dir, ohne dich – unser gemeinsames Leben mit Demenz“ 

288 S., mit Fotografien von Ulrich Schaffer

 

28 €, Patmos Vlg. 

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ auf S. 55.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des © Patmos Verlages, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2023, www.verlagsgruppe-patmos.de