Bewusstes Leben 2024/2025


Dezember 2024 - April 2025


Die Erstgeborenen

Foto: © jatocreate – pixabay.com
Foto: © jatocreate – pixabay.com

Autor: Wolfgang Schmidbauer

 

Im Nachlass meines im März 1939 geborenen Bruders fand ich ein Album mit Fotografien aus seinen ersten Lebensjahren. Ich besaß einen ähnlichen Band, helle Pergament-Imitation mit blauen Ecken aus Kunstleder. Zuerst war ich gar nicht sicher, ob wirklich Ernst abgebildet war und nicht ich. Auf den Fotos in „meinem“ Album war ich das Kind mit den blonden Locken und dem sonnigen Gesichtsausdruck; Ernst neben mir trug die Haare kurz, gescheitelt und blickte – ernst.

Ich blätterte vor, ich blätterte zurück, es war klar: Dieser blühend und fröhlich aussehende, in das Objektiv lächelnde kleine Junge war mein großer Bruder, das erste Kind seiner Eltern, vom Fotografen in das beste Licht gerückt. Dann wurde ich geboren, Ernst musste zum ersten Mal zum Haareschneiden, seine Locken fielen, meine wuchsen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich: der Blick verhangen, der Mund gerade, die bisher vollen Lippen schmal und gepresst. Wenn ich seine Stimmung einfangen möchte, war es die Veränderung von „schön ist es auf der Welt zu sein“ zu „es wartet eine Aufgabe“.

Unser Vater war ein leidenschaftlicher Fotograf, der seine Filme selbst entwickelte und in einer improvisierten Dunkelkammer bearbeitete. Im Mai 1941 kam ich zur Welt, der zweite Sohn. Auf den Fotos ab 1942 war Ernst zu sehen, der in den Kinderwagen blickt, neben dem Baby steht, mit einem Gesichtsausdruck, der zu seinem Namen und zu meinen Erinnerungen an ihn passt.

Unser Vater hat seine beiden Söhne zuletzt im Dezember 1942 fotografiert, wie sie die Kerzen am Weihnachtsbaum bestaunen und gemeinsam in einem Bilderbuch blättern. Viele Stunden seines letzten Fronturlaubs muss er damit verbracht haben, die Negative zu vergrößern und die Bilder in ein Album zu kleben, mit lakonischen Bemerkungen in seiner fließenden Handschrift. Im Januar 1944 ist er dann in der Ukraine gefallen, südlich von Kiew.

Der Eindruck, den das Gesehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch der Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.

Unsere kluge Mutter hat ihrem Erstgeborenen wohl gar nicht so banale Dinge gesagt wie, er sei nun groß und müsse vernünftig sein. Das war nicht nötig, das ergab sich wie von selbst und war doch schrecklich. Bisher gehörten ihm Welt und Mutter allein; jetzt war klar, dass er beides teilen musste und das Ganze verloren hatte. Ich hingegen wusste von Anfang an, dass da neben der Mutter noch ein Gefährte war, den ich interessant fand, von dem ich lernen, mit dem ich spielen konnte, freilich stets darauf bedacht, dass ich dem Zentrum der Macht näher blieb als er.

Ich kann nicht entscheiden, ob mir die Veränderung meines Bruders in dem Album aufgefallen wäre, wenn ich nicht durch meine Arbeit als Psychoanalytiker und Familientherapeut geschult wäre, auf solche Details zu achten. Zudem hatte ich in den letzten Jahren einige Patientinnen und Patienten analysiert, deren unbewusste Konflikte wieder und wieder in die beschriebene Situation führten: Sie sind Erstgeborene, sie nehmen Situationen ernst und schwer, die andere abschütteln, sie kämpfen darum, Beziehungen zu ordnen, zu kontrollieren, sie fühlten sich schuldig, wenn sie sich über weniger pflichtbewusste Kollegen ärgern.

Ich kann mich kaum erinnern, wie oft ich beschloss, nie wieder mit Ernst zu spielen, ihm nie wieder ein Buch zu leihen, nichts mehr zusammen zu unternehmen. Es war wie bei Mark Twain: Nichts ist leichter, als das Rauchen aufzugeben, ich hab’ es schon hundertmal gemacht. Wenn in einer Therapie die Rede auf schwer erträgliche Geschwisterkonflikte kommt, sage ich manchmal: „Geschwister sind schrecklich. Aber keine zu haben ist schlimmer.“

Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, hat sich aus dieser spät erkannten Verwandlung meines erstgeborenen Bruders und den vielfältigen Erfahrungen mit Erstgeborenen in der Einzel-, Gruppen- und Familientherapie gefügt. Beide Quellen spiegelt der Text. Ich werde zeigen, dass es fundamentale Unterschiede zwischen Erstgeborenen und allen anderen Geschwisterpositionen gibt, die in modernen Familien besonders ins Gewicht fallen. Wenn wir sie uns vergegenwärtigen, werden wir vergangene wie aktuelle Konflikte besser verstehen. Wenn ich Ernst und mich selbst immer wieder als Beispiele heranziehe, hat das den Vorzug, dass ich unbefangen und detailgetreu erzählen kann, während in den Fallgeschichten aus der Praxis die Personen durchweg in Fiktionen verkleidet wurden, um sie unkenntlich zu machen.

Zur Vorbereitung auf meine Aussagen bitte ich Leserinnen und Leser um Verständnis für eine Neigung zur (Über)Pointierung. Sie entspringt der therapeutischen Arbeit, in der es darum geht, Aufmerksamkeit zu wecken und Denkprozesse anzustoßen. Ganz bestimmt opfern nicht alle Erstgeborenen ihre Kindheit den Geschwistern, leben nicht alle Kinder mehr unter Erwachsenen und weniger zwischen Kindern. Aber wenn das geschieht, verdienen die entstehenden Probleme unsere Aufmerksamkeit. Entwicklungsprozesse sind durchweg vielfältig bestimmt, Erbanlagen, soziale Einflüsse, persönliche Entscheidungen wirken zusammen. Sie können die Macht der Geschwisterrolle kompensieren oder überdecken; zu jedem Einzelbeispiel gibt es ein Gegenbeispiel. Das sollte uns aber nicht hindern, uns in einzelne Fälle zu vertiefen und sie so gut wie möglich zu durchleuchten.

Mein Entschluss, das Allgemeine mit dem Persönlichen zu mischen, Aussagen über die Dynamik der Erstgeborenen mit meiner eigenen Bruderbeziehung zu verknüpfen, steht auch für dieses Dilemma. Die eigene Geschichte prägt das, was die Psychoanalyse Gegenübertragung nennt: Gedanken, Gefühle und Fantasien, die den Blick des Psychologen lenken und, wo sie unbewusst bleiben, sein Urteil trüben. Indem ich freimütig über meine Bruderbeziehung spreche, sollten – so hoffe ich wenigstens – Leserinnen und Leser ein Gefühl für die Eigenart einer Wissenschaft entwickeln, die Unbewusstes bewusst macht.

 

Die moderne Familie

In den Kleinfamilien der hoch entwickelten Länder haben sich viele Dinge verändert. Noch vor zweihundert Jahren wuchsen weitaus die meisten Kinder in Dörfern auf. Es wäre weder Mutter noch Vater in den Kopf gekommen, dass Erwachsene mit Kindern spielen sollen. Gespielt wurde durchaus, mehr und sicher wilder als heute, denn wenn das Baby zum Spielkind reifte, zog es hinaus und konnte sich in einer Gruppe zusammen mit anderen Kindern, gleichaltrigen, älteren, bald auch jüngeren auf die Vielfalt menschlicher Beziehungen, auf Liebe, Hass, Neid und Eifersucht vorbereiten.

Heute gibt es viele Einzelkinder; am häufigsten ist die Zweikinderfamilie. Spielgruppen sind gleichaltrig und werden von Erwachsenen kontrolliert. Eltern fühlen die Pflicht, ihre Kinder zu fördern, Lehrer fordern die Klasse auf, sich bei Mobbing an sie zu wenden. Kinder wachsen nicht mehr im Freien mit Kindern auf, sondern in geschlossenen Räumen unter Erwachsenen. Geschwister können die archaischen Spielgruppen, die Stammeskultur und Dorfleben prägten, nicht ersetzen.

Ich habe viele Jahre mit Therapie- und Selbsterfahrungsgruppen gearbeitet, die in der Weiterbildung von Therapeuten und Beratern eine wichtige Rolle spielen. Manchmal glaubte ich den Verlust der urtümlichen Spielgruppe zu ahnen, wenn der Freiraum, sich in einer sozialen Situation darzustellen und neugierig auf Menschen zuzugehen, erst einmal kaum genutzt wurde. Zehn kluge, sozial interessierte Menschen in einem Raum haben Mühe, die Ängste zu überwinden, die das schlichte Angebot auslöst, zu sagen, was sie gerade übereinander denken, fühlen und herausfinden möchten.

Einige Male habe ich Untergruppen gebildet. Sie sollten gemeinsam darüber nachdenken, was die Geschwisterrolle mit uns macht: Älteste, Jüngste, Mittlere und Einzelkinder. Typische Äußerungen sind, dass die Erstgeborenen sich an den Verlust der eigenen Kindheit erinnern, wenn ein Geschwister kommt, aber auch an den Gewinn an Macht und Einfluss. Sie fühlen sich verantwortlich, sie werden in die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen.

Das führt zu Konflikten außerhalb der Familie. Eine Szene, geschildert in einer Therapie: Der Erstgeborene trägt sein erstes Gymnasialzeugnis nach Hause, nur Einsen, im Sport die Zwei. Auf dem Weg trifft er einen etwas älteren Jungen, der sich nach den Noten erkundigt. Arglos gibt der Elfjährige Auskunft. Der Kommentar des Älteren „Ein echtes Streberzeugnis“ erschüttert ihn zutiefst. Er will unbedingt die Sportnote verbessern und übt an der Stange, bis er blaue Flecken hat. „Bis heute fürchte ich, dass mich jemand für einen Streber hält, ich sage nie meine Noten.“

Die Tragik dieser Szene liegt darin, dass der Elfjährige den impliziten Auftrag der Mutter erfüllt, den beiden jüngeren Geschwistern ein zuversichtlich stimmendes Vorbild für den Übertritt in das Gymnasium zu sein. Indem er das tut, macht er sich angreifbar, gilt als Streber und Schleimer. Zusammengefasst: Wer innerhalb der Familie Verantwortung übernehmen und Vorbild sein soll, kann eben deshalb außerhalb der Familie anecken und eingeschüchtert auf der Strecke bleiben.

Erstgeborene finden die Jüngeren (die für sie nie wirklich aufhören werden, die Kleinen zu sein) ansprüchlich und undankbar. Sie mussten den Eltern Freiheiten abringen, die den jüngeren Geschwistern in den Schoß fallen. Sie formen die Eltern (oder versuchen es wenigstens), unterstützen sie, sich angemessen um ihre kleinen Geschwister zu kümmern, und erwarten Dankbarkeit.

Die Jüngeren hingegen sehen nicht ein, warum sie dankbar sein sollen. Das wäre doch eher Pflicht der Erstgeborenen, die sich so lange wichtigmachen durften und sich dann auch noch geziert haben, von ihrem Vorsprung abzugeben. Die mittleren Kinder schauen angesichts solcher Debatten nach beiden Richtungen und sagen sich, ach, wir können die Großen verstehen und die Kleinen auch, wir kennen beides, wir sind erst die Kleinen gewesen, und als dann noch jemand geboren wurde, waren wir auf einmal die Großen. Immer gab es jemand, der oder die das schon gewesen war. Was wir an Bedeutung gewonnen haben, haben wir auch wieder verloren. Wir sind flexibel, ziehen los und suchen anderswo unser Glück.

 

Wolfgang Schmidbauer

 

„Die Erstgeborenen“

 

176 S., Bonifatius Vlg., 18 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ S. 57.

 

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Bonifatius Verlages.

 


August - Dezember 2024


REMIND – Dein Gehirn kann viel mehr als du glaubst

© Gerd Altmann - pixabay.com
© Gerd Altmann - pixabay.com

Autorin: Yovonne Diewald

Yvonne Diewald ist erfolgreiche Neuro-Coachin mit einer besonderen Geschichte: Ihrem viel zu früh geborenen Sohn Dominic wurde von den Ärzten diagnostiziert, dass er wegen seiner Hirnschädigung niemals gehen, sprechen oder schreiben können würde. Doch ihr gelang, was niemand für möglich hielt: Dominic lebt aufgrund des konsequenten Trainings mit seiner Mutter heute ein glückliches und selbstständiges Leben und ist der beste Beweis, dass unsere Gehirne veränderbar sind. Die Erfahrungen mit ihrem Sohn, ihr Wissen als Neurowissenschaftlerin und die langjährige Praxis als Transformationsexpertin konzentriert Yvonne Diewald in ihrem lebensverändernden REMIND®-Programm. Darin zeigt sie, wie wir unsere Gehirne selbst programmieren und uns so von unseren Problemen befreien können, seien es Depressionen oder Ängste, Schwierigkeiten in Beziehungen oder im Umgang mit Finanzen. Diewald zeigt auf, wie belastende Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster in unserem Gehirn entstehen und dort als neuronale Dauerschleifen aktiv sind. REMIND® erklärt in sechs Schritten, wie wir uns dieser Muster bewusstwerden, sie unterbrechen und neue förderliche neuronale Programme anlegen und verfestigen können. Damit unser Gehirn auf Gesundheit, Liebe und Erfolg ausgerichtet wird.
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Natürliche Erholung: Waldbaden als Gegenmittel zur modernen Hektik

Autorinnen: Jasmin Schlimm-Thierjung, Sandrella Lithoxopoulos

 

In der heutigen Welt fällt es vielen schwer, Ruhe zu genießen. Ein Hauptgrund ist die dauerhafte Erreichbarkeit und Ablenkung durch Smartphones und digitale Medien, die zu Reizüberflutung führen. Gesellschaftlicher und Leistungsdruck tragen dazu bei, dass viele sich verpflichtet fühlen, ständig produktiv zu sein. 

Moderne Technologien bieten sofortige Belohnungen durch Likes und Benachrichtigungen, die süchtig machen. Deshalb empfinden viele längere Ruhephasen oder Stille als langweilig oder unangenehm. In diesen Momenten können Angst und Unruhe auftreten, weil man sich mit eigenen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen muss. Stress und ungelöste Probleme werden dann intensiver wahrgenommen und deshalb oft gemieden.

Laut einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse fühlen sich fast 70% der Deutschen häufig gestresst. Als Hauptursachen wurden beruflicher Druck und ständige digitale Vernetzung ausgemacht. Die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit sind erheblich: Dauerhafte Erreichbarkeit und Informationsflut führen zu mehr Stress und Burnout. 
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April - August 2024


Meditieren - 7 einfache Praktiken für einen ruhigen Geist

© Fernando Albert – pixabay.com
© Fernando Albert – pixabay.com

Tsoknyi Rinpoche: Wenn ich ein Wort wählen müsste, um den schwierigsten Aspekt unseres modernen Lebensstils zu beschreiben, dann wäre es »Schnelligkeit«. Das Tempo unseres Privat- und Arbeitslebens in Verbindung mit der Fülle an Informationen und Reizen, die uns ständig erreichen, kann uns aus dem Gleichgewicht bringen und uns unzufrieden machen. Geschwindigkeit, Reizüberflutung und Druck lassen uns empfindlicher und verletzlicher werden. Diese Kräfte hämmern immer wieder auf unsere sensibilisierten Körper und Sinne ein.

Bei näherer Betrachtung von Stress merkte ich aber, dass physischer Körper und kognitiver Verstand eher nicht das Hauptproblem sind. Wir können uns nur so schnell bewegen, wie wir uns bewegen können. Wir sind normalerweise in der Lage, recht schnell zu denken, wenn es notwendig ist. Wo liegt also das Problem? Was stresst uns so sehr? Es ist unsere energetische Welt: unsere Gefühle, Emotionen, Empfindungen und unser Flow. Diese Grauzone wird von uns oft übersehen oder abgetan. Die tibetische Tradition nimmt diesen Bereich des Menschseins allerdings sehr ernst und bietet eine Reihe von Techniken sowie Einsichten an, wie wir unsere Energie ausgleichen und gesund halten können. Und darin liegt der Schlüssel.

Wie ich im letzten Kapitel erwähnte, konnte ich die Auswirkungen von hohem Tempo und Stress in meinem eigenen Leben sehen und in meinem Körper spüren. Diese Dinge stauten sich mit der Zeit auf und begannen mich zu beeinträchtigen. Ich wurde neugierig, wo sich die Auswirkungen tatsächlich bemerkbar machten, und ging sogar zu einer Untersuchung bei meinem Arzt. Körperlich war alles in Ordnung. Als ich in mich hineinschaute, sah ich, dass auch mein Verstand in Ordnung war – er war immer noch scharf und schnell. Was wurde also so sehr beeinträchtigt? Ich erkannte, dass das hohe Tempo und der Stress vor allem meine Energie und meine Gefühle beeinträchtigten – das, was ich inzwischen meinen Gefühlskörper nenne. Ich merkte, dass meine Energie und mein Atem oben in meiner Brust und in meinem Kopf saßen, anstatt unten im Bauch. Dadurch fühlte ich mich aufgekratzt, leicht aus dem Gleichgewicht und nicht geerdet. Ich spürte einen leichten Druck im Kopf und ein leichtes Brennen in den Augen. Mit der Zeit spürte ich auch weniger Freude an Dingen, die mir normalerweise Spaß gemacht hatten, und fing an davon zu träumen, wann ich mir einen Tag freinehmen könnte, um nichts zu tun, oder wann ich das nächste Mal einen Urlaub einschieben könnte. Als ich dieses Muster bei mir selbst erkannte, begann ich es überall zu sehen; bei Menschen, denen ich begegnete, und bei Schülern, die ich überall auf der Welt unterrichtete. Glücklicherweise hatte ich einen gewissen Background in der Arbeit mit Körper und Geist, sodass ich in der Lage war, Techniken anzuwenden, um meine Situation zu verbessern. Als ich anfing, diese Methoden weiterzugeben, stellte ich fest, dass die Menschen sie als hilfreich empfanden. Und so sind die Techniken, die wir in diesem Kapitel vorstellen, solche, die mir und vielen meiner Freunde und Schüler geholfen haben.

 

Versuchen Sie für einige Momente Folgendes: 

Schließen Sie die Augen und lassen Sie Ihr Gewahrsein in den Körper fallen. Seien Sie mit allem, was auch immer geschieht, präsent. Fühlen Sie einfach nur, wie es ist. Fühlen Sie sich gestresst oder entspannt? Wie fühlt sich das an? Können Sie die physischen Empfindungen des Körpers (Wärme, Kühle, Schmerz, Behagen, Spannung) von den subtileren energetischen Gefühlen (wie etwa vibrierend, schnell, ängstlich, ruhig und so weiter) unterscheiden? Was auch immer geschieht: Sperren Sie sich nicht dagegen und sorgen Sie sich nicht. Fühlen Sie es einfach nur.

 

Die drei Tempolimits

Als ich mir an jenem Morgen in Kathmandu vornahm, langsamer zu werden, half mir die Erfahrung, mich mit dem natürlichen Tempo meines Körpers zu bewegen, einen wichtigen Unterschied zwischen meinem Körper, meinem denkenden Geist und meiner Energie zu verstehen. Als ich, wie bereits angedeutet, nach der Wurzel des Problems suchte, konnte ich den Stress zu meiner Überraschung weder in meinem Körper noch in meinem Geist finden. Ich erkannte, dass es drei Arten von Tempo gibt: das körperliche, das kognitive und das gefühlsmäßige oder energetische Tempo. Ich konnte ohne Stress und Anspannung gehen und mich schnell bewegen. Mein Körper konnte sich so schnell bewegen, wie er musste; das Problem lag nicht dort. Mein Geist konnte schnell und kreativ denken; auch das war in Ordnung. Es war meine Gefühlswelt, die aus dem Gleichgewicht geraten und verzerrt war. Ich erkannte also, dass sich Stress in der energetischen Welt, der Gefühlswelt, ansammelt. Je mehr ich verstand, was in mir vorging, desto deutlicher sah ich es auch im Außen, überall auf der Welt. Wie auch immer wir es nennen: Eile, Unruhe, Rastlosigkeit, Stress. Ich glaube, fast alle von uns können das nachvollziehen.

 

Ich nenne dieses Verständnis die »drei Tempolimits«: das körperliche, das verstandesmäßige und das gefühlsmäßige oder energetische Tempolimit. Der Körper hat sein eigenes gesundes Tempo, aber die Gefühlswelt kann auf eine verzerrte Weise gehetzt werden. Dieses Gefühl von ruheloser, ängstlicher Energie ist nicht gesund. Es ist verzerrt, weil es nicht rational ist; es stimmt nicht mit der Realität überein. Die schnelle Energie sagt uns, dass wir möglichst jetzt ankommen müssen, selbst wenn uns das nicht möglich ist. Die Angst sagt uns, dass wir sterben werden; obwohl das gar nicht der Fall ist. Um das Tempolimit des Körpers von dem der Gefühlswelt zu unterscheiden, stellen Sie sich vor, Sie müssten einen großen Raum aufräumen. Sie gehen hinein und sehen, was zu tun ist. Möbel umstellen, Staub wischen und Staub saugen – das wird etwa eine Stunde dauern. Dies ist das physische Tempolimit. Die Gefühlswelt hingegen kann entweder entspannt sein oder die ganze Zeit auf uns einhämmern: Mach schneller! Werd so schnell wie möglich fertig! Ich will, dass es vorbei ist! – Wenn wir das Aufräumen so angehen, fühlen wir uns die ganze Zeit gestresst und in zwanzig Minuten ausgebrannt. Doch ist unsere Energie entspannt, so können wir unser natürliches Tempolimit respektieren und den Raum genauso gut reinigen, ohne dass wir uns gehetzt oder ruhelos fühlen. Vielleicht fühlen wir uns sogar erfrischt, wenn wir fertig sind.

 

Wenn wir nicht zwischen diesen Tempolimits unterscheiden, ist es so, als hätten wir das Problem nicht richtig diagnostiziert und könnten daher nicht die richtigen Gegenmittel anwenden. Ein großes Missverständnis liegt in der Vorstellung, dass schnelle Energie und schnelle Bewegung fast dasselbe sind. Dann versuchen wir entweder unseren Körper oder unser Denken zu verlangsamen. Beides funktioniert nicht, denn unser Körper und unser kognitiver Geist sind nicht der Ort, an dem das Problem liegt, und auch nicht der Ort, an dem die Lösung zu finden ist. Und nicht nur das: Diese Strategien verursachen nur weitere Probleme. Wenn wir unseren Körper und unseren Geist verlangsamen, mögen wir anfangen uns Sorgen zu machen, ob wir gut in der Welt funktionieren können. Es kann auch sein, dass wir beginnen Angst zu haben und uns von der Welt zurückziehen, als sei sie ein Feind. Aber wir müssen funktionieren; das Leben ist schnell, und wir können es nicht verlangsamen. Wir müssen schnell sein in der Welt. Wir müssen unseren Körper und unseren Verstand bewegen. Schnelles Denken ist gut, es ist nützlich! Was ist also dieser dritte Teil unseres Wesens, dieser undurchsichtige Bereich der Gefühlswelt? Ich denke wirklich, er ist der Schlüssel zum Verständnis von Stress und der Arbeit damit.

 

Lassen Sie Ihr Gewahrsein in den Körper fallen und empfinden Sie die Gefühle, wie auch immer sie sein mögen. Sind die Gefühle überdreht oder ängstlich, dann fühlen Sie dies. Sind sie entspannt und geerdet, dann fühlen Sie das. Ob Sie sitzen oder stehen, beginnen Sie Ihren Körper zu schütteln und bewegen Sie Ihre Hüften, Ihre Schultern und Arme, so als tanzten Sie zu Ihrer Lieblingsmelodie. Spielen Sie mit der Bewegung, sowohl wenn Sie innerlich angespannt als auch entspannt sind. Spüren Sie, wie diese Zustände sich anfühlen. Beobachten Sie, ob Sie sich normal oder sogar schnell bewegen können, ohne dass Sie innerlich angespannt sind.

 

 

Tsoknyi Rinpoche & Daniel Goleman:

 

„Meditieren - 7 einfache Praktiken für einen ruhigen Geist“

 

Lotos Vlg., 256 S., 22 €

 

Siehe auch unter „Wortwelten“ auf S. 54.

 

Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Lotos Verlages.