Aus aktuellem Anlass - von Claus Eurich:
Mit der vertraglich vollzogenen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 ging so etwas wie ein politisches Wunder einher. Ein Weltreich zerfällt und entlässt die gewaltsam einverleibten Nationen in die Freiheit. Und das, ohne sich noch einmal aufzubäumen bzw. die separatistischen nationalstaatlichen Tendenzen mittels Waffeneinsatz zu unterdrücken.
Ist der Überfall Russlands auf die Ukraine – nach Georgien und der Krim – bloß ein weiterer verspäteter Versuch, die Geschichte zurückzudrehen oder zumindest signifikant zu korrigieren? Sicherlich spielt das eine nicht unerhebliche Rolle, vor allem eingedenk der begründeten Vermutung, dass der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin und zahlreiche seiner Gefolgsleute das Trauma des Zerfalls nie wirklich überwunden haben. Dafür sprechen auch Bemerkungen des Kreml-Chefs über eine noch nie erlebte militärische Reaktion, falls andere Länder oder Bündnisse sich der Intervention entgegenstellen. Man mag diese bis vor Kurzem nur schwer vorstellbare atomare Drohung lediglich als ein Zeichen von Schwäche, von Verletzung und von einer Wut deuten, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat und die mit der „Heimholung“ der Krim nur kurz zu besänftigen war. Und jetzt vielleicht noch als ein Ausdruck ohnmächtiger Wut, weil die Vereinnahmung eines Landes nicht so vonstatten geht, wie man sich das erhofft hatte und zugleich „der Westen“ eine unerwartete Einigkeit zeigt.
Doch wir sollten es uns auch nicht zu leicht machen. Die Ursachen liegen wesentlich tiefer. Was sich gerade ereignet, resultiert aus dem noch immer vorherrschenden Empfinden auf der Erde. Es drückt sich in „Putin“ lediglich auf außerordentliche und mit außerordentlicher politischer und vor allem militärischer Macht verbundene Weise aus. Wir erleben ein evolutionäres Lehrstück aus einer Entwicklungsstufe, die wir eigentlich dachten, gerade hinter uns zu lassen. Egozentrik auf allen Ebenen, eine narzisstische Grundstörung, Macht, Einfluss und Kontrolle formen das entsprechende Identitäts- und Selbstverständnis. Staatspolitisch zeigt es sich in einem hegemonialen, ja spätkolonialen Bewusstsein.